Dr. Wilson stellte mit Befriedigung fest, dass dies eine natürliche Geburt werden würde. Er beobachtete, wie zuerst die Füße des Kindes, dann zwei kleine Beine herauskamen. Beim nächsten Pressen der Mutter erschienen die Schenkel des Kindes.
»Wir haben's beinahe geschafft«, sagte Dr. Wilson ermutigend. »Pressen Sie noch einmal.«
Mrs. Czinski tat es. Nichts geschah.
Er runzelte die Stirn. »Versuchen Sie's noch mal. Fester.«
Nichts.
Dr. Wilson legte die Hände um die Beine des Kindes und zog ganz sanft. Keine Bewegung. Er zwängte eine Hand an dem Kind vorbei durch den engen Gang in den Uterus und begann zu sondieren. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Die Entbindungsschwester tupfte sie ab.
»Wir bekommen Schwierigkeiten«, sagte Dr. Wilson leise.
Mrs. Czinski hörte es. »Was ist los?« fragte sie.
»Alles bestens.« Dr. Wilson langte weiter hinein und versuchte sanft, das Kind nach unten zu drücken. Es rührte sich nicht. Er konnte fühlen, dass die Nabelschnur zwischen dem Körper des Kindes und dem mütterlichen Becken zusammengepreßt und die Blutzufuhr des Kindes abgeschnitten war.
»Fötoskop!«
Die Entbindungsschwester griff nach dem Instrument und setzte es am Leib der Mutter an, horchte auf den Herzschlag des Kindes. »Er ist auf dreißig herunter«, meldete sie. »Außerdem Rhythmusstörungen.«
Dr. Wilsons Finger tasteten das Innere des Mutterleibes ab, sondierten und suchten.
»Ich verliere den Herzschlag des Fötus -« Die Stimme der Entbindungsschwester klang besorgt. »Er setzt aus!«
Sie hatten ein sterbendes Kind im Mutterschoß. Es gab noch eine geringe Chance für die Wiederbelebung, wenn sie es rechtzeitig herausbekommen konnten. Sie hatten ein Maximum von vier Minuten, es zu entbinden, seine Lungen zu säubern und sein winziges Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Nach vier Minuten würde der Gehirnschaden schwer und unwiderruflich sein.
»Stoppuhr an«, befahl Dr. Wilson.
Jeder im Raum blickte instinktiv auf, als die Zeiger der elektrischen Uhr an der Wand auf die Zwölf-Uhr-Position rückten und der große rote Sekundenzeiger seine erste Umdrehung machte.
Das Entbindungsteam ging an die Arbeit. Ein Atemgerät wurde an den Tisch herangeschoben, während Dr. Wilson sich bemühte, das Kind vom Beckenboden zu lösen. Er begann mit der Bracht-Methode, versuchte, das Kind zu verschieben, wobei er dessen Schultern zusammendrückte, damit es durch die Öffnung der Vagina gleiten konnte. Vergeblich.
Einer Lernschwester, die zum ersten Mal an einer Entbindung teilnahm, wurde plötzlich schlecht. Sie eilte aus dem Raum.
Draußen, vor der Tür des OP, stand Karl Czinski und knetete nervös seinen Hut in den großen schwieligen Händen. Dies war der glücklichste Tag seines Lebens. Er war Tischler, ein einfacher Mann, der viel von früher Heirat und großer Familie hielt. Dieses Kind würde das erste sein, und er konnte seine Erregung kaum zügeln. Er liebte seine Frau sehr und wusste, dass er ohne sie verloren wäre. Er dachte noch an seine Frau, als die Schwester aus dem Kreißsaal stürzte, und rief ihr zu: »Wie geht es ihr?«
Die verstörte junge Schwester, deren Gedanken ausschließlich mit dem Kind beschäftigt waren, rief: »Sie ist tot! Sie ist tot!« und stürzte davon, weil sie sich übergeben musste.
Mr. Czinski wurde kreideweiß. Er fuhr sich an die Brust und rang nach Luft. Als man ihn in die Intensivstation brachte, war ihm nicht mehr zu helfen.
Im Kreißsaal arbeitete Dr. Wilson wie rasend im Wettlauf mit der Uhr. Er konnte die Nabelschnur berühren und den Druck darauf fühlen, aber es gab keine Möglichkeit, ihn zu mindern. Er musste gegen den Impuls ankämpfen, das halbentbundene Kind mit Gewalt herauszuziehen, aber er hatte gesehen, wie es Kindern erging, die so entbunden worden waren. Mrs. Czinski stöhnte jetzt, halb wahnsinnig.
»Pressen Sie, Mrs. Czinski. Fester! Los!«
Es hatte keinen Zweck. Dr. Wilson blickte zur Uhr hinauf. Zwei kostbare Minuten waren vergangen, ohne dass Blut durch das Hirn des Kindes zirkulierte. Dr. Wilson stand nun vor einem weiteren Problem: Was sollte er tun, wenn das Kind nach den vier Minuten gerettet würde? Es leben, das hieße, dahinvegetieren lassen? Oder ihm einen gnadenvollen, schnellen Tod geben? Er schob den Gedanken beiseite und verstärkte seine Bemühungen. Er schloss die Augen, konzentrierte sich völlig auf das, was sich in dem Körper der Frau abspielte. Er versuchte die Mauriceau-Smellie-Veit-Methode, eine komplizierte Folge von Bewegungen, dazu bestimmt, den Körper des Kindes zu lockern und zu befreien. Und plötzlich veränderte sich etwas. Er fühlte eine Bewegung. »Piper-Zange!«
Die Entbindungsschwester reichte ihm schnell die Spezialzange, und Dr. Wilson führte sie ein und legte sie um den Kopf des Kindes. Einen Augenblick später tauchte der Kopf auf.
Das Kind war entbunden.
Dies war immer der schönste Augenblick: das Wunder eines neu erschaffenen Lebens, das rotgesichtig und schreiend sich über die Unwürdigkeit beklagte, aus dem ruhigen, dunklen Schoß in das Licht und die Kälte hinausgezwungen zu werden.
Aber nicht bei diesem Kind. Dieses Kind war blauweiß und still. Es war ein Mädchen.
Die Uhr. Noch eineinhalb Minuten. Jede Bewegung lief jetzt schnell und automatisch ab, das Ergebnis langjähriger Praxis. Gazeumwickelte Finger säuberten den Rachen des Kindes, so dass Luft in die Kehlkopföffnung dringen konnte. Dr. Wilson legte das Kind flach auf den Rücken. Die Entbindungsschwester reichte ihm einen kleinen Kehlkopfspiegel, der an eine elektrische Saugpumpe angeschlossen war. Er brachte ihn an und nickte, und die Schwester schaltete das Gerät ein. Ein rhythmisch saugendes Geräusch war zu vernehmen.
Dr. Wilson blickte zur Uhr empor.
Noch zwanzig Sekunden. Herzschlag negativ.
Fünfzehn… vierzehn… Herzschlag negativ.
Der Augenblick der Entscheidung war gekommen. Es konnte schon zu spät sein, eine Gehirnschädigung zu verhindern. Aber ganz sicher war man bei diesen Dingen nie. Er hatte Krankenhausstationen voller trauriger Geschöpfe mit den Körpern von Erwachsenen und dem Verstand von Kindern gesehen – und Schlimmeres.
Zehn Sekunden. Und kein Puls, nicht einmal ein Hoffnungsschimmer.
Fünf Sekunden. Er traf seine Entscheidung jetzt und hoffte, dass Gott verstehen und ihm vergeben würde. Er würde den Stöpsel herausziehen und sagen, dass das Kind nicht hätte gerettet werden können. Niemand würde Kritik an seiner Handlungsweise üben. Er befühlte die Haut des Kindes noch einmal. Sie war kalt und feucht.
Drei Sekunden.
Er sah auf das Kind hinunter und hätte fast geweint. Es war ein Jammer. Es war ein so hübsches Kind. Es wäre zu einer schönen Frau herangewachsen. Er fragte sich, wie sich ihr Leben wohl gestaltet hätte. Hätte sie geheiratet und Kinder gehabt? Oder wäre sie Künstlerin oder Lehrerin oder Geschäftsfrau geworden? Wäre sie reich oder arm gewesen? Glücklich oder unglücklich?
Eine Sekunde. Kein Herzschlag.
Null.
Er griff nach dem Schalter, und in diesem Augenblick begann das Herz des Kindes zu schlagen. Zunächst eine unmotivierte Zuckung, dann wieder eine, und dann festigte sie sich zu einem starken, regelmäßigen Schlag. Spontane Hochrufe und Glückwünsche erklangen im Raum. Dr. Wilson hörte nicht hin.
Er starrte zu der Uhr an der Wand empor.
Ihre Mutter nannte sie Josephine, nach ihrer Großmutter in Krakau. Ein zweiter Vorname wäre für die Tochter einer polnischen Näherin in Odessa, Texas, anmaßend gewesen.
Aus Gründen, die Mrs. Czinski nicht begriff, bestand Dr. Wilson darauf, dass Josephine alle sechs Wochen zur Untersuchung ins Krankenhaus gebracht wurde. Das Ergebnis war jedesmal dasselbe: sie schien normal.
Nur die Zeit würde es beweisen.