Jill ging allein zum Empfang, aber es war, als stünde David jeden Augenblick neben ihr. Sie unterhielt sich mit ihren Gastgebern und tanzte und bedankte sich für die ihr erwiesenen Huldigungen, doch die ganze Zeit durchlebte sie im Geist ihre Begegnung mit David. Ich habe das falsche Mädchen geheiratet. Cissy und ich sind geschieden. Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben.
Um zwei Uhr morgens verabschiedeten sich Jills Begleiter vor ihrer Hotelsuite von ihr. Sie trat ein und fand Toby mitten im Zimmer bewusstlos auf dem Boden, die rechte Hand zum Telefon ausgestreckt.
Toby Temple wurde eilends in einem Krankenwagen zur Diplomatischen Poliklinik gebracht. Drei berühmte Spezialisten wurden mitten in der Nacht gerufen, um ihn zu untersuchen. Jeder bezeigte Jill sein Mitgefühl. Der Krankenhausdirektor geleitete sie in ein Privatbüro, wo sie auf Nachricht wartete. Es ist wie eine Wiederaufführung, dachte Jill. All das hat sich schon einmal ereignet. Es war alles sehr vage und unwirklich.
Stunden später öffnete sich die Tür zum Büro, und ein kleiner, fetter Russe watschelte herein. Er trug einen schlechtsitzenden Anzug und sah wie ein erfolgloser Klempner aus. »Ich bin Dr. Durow«, sagte er. »Ich betreue den Fall Ihres Gatten.«
»Ich möchte wissen, wie es ihm geht.«
»Setzen Sie sich bitte, Mrs. Temple.«
Jill war sich gar nicht bewusst gewesen, dass sie aufgestanden war. »Sagen Sie es mir.«
»Ihr Mann hat einen Schlaganfall gehabt – eine Cerebral-Thrombose.«
»Wie schlimm ist es?«
»Es ist einer – wie sagen Sie? – der schwersten, gefährlichsten Fälle. Wenn Ihr Mann überleben sollte – und es ist noch zu früh, darüber etwas zu sagen -, wird er nie wieder gehen oder sprechen können. Sein Geist
ist klar, aber er ist völlig gelähmt.«
Bevor Jill Moskau verließ, rief David sie an.
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut«, sagte er. »Ich werde dir beistehen. Wenn du mich brauchst, werde ich immer für dich dasein. Vergiss das nicht.«
Es war das einzige, was Jill half, in dem beginnenden Alptraum ihren Verstand zu behalten.
Die Heimreise war eine teuflische Wiederholung der Vergangenheit. Die Krankenbahre im Flugzeug, der Krankenwagen vom Flughafen zum Haus, das Krankenzimmer.
Nur dass es diesmal nicht das gleiche war. Jill hatte es sofort gewusst, als man ihr erlaubte, Toby zu sehen. Sein Herz schlug, seine lebenswichtigen Organe funktionierten; in jeder Hinsicht war er ein lebender Organismus. Und trotzdem war er es nicht. Er war ein atmender, pulsierender Leichnam, ein toter Mann in einem Sauerstoffzelt mit Schläuchen und Nadeln in seinem Körper, die ihn mit jenen Lösungen versorgten, die nötig waren, um ihn am Leben zu erhalten. Sein Gesicht mit den hochgezogenen Lippen, die sein Zahnfleisch entblößten, war so entsetzlich verzerrt, dass es aussah, als ob er grinste. Ich fürchte, ich kann Ihnen keine Hoffnung machen, hatte der russische Arzt gesagt.
Das war vor vielen Wochen gewesen. Nun waren sie wieder zu Hause in Bel-Air. Jill hatte sofort Dr. Kaplan hinzugezogen, der Fachärzte kommen ließ, die ihrerseits weitere Kapazitäten gerufen hatten, und es kam immer dieselbe Antwort: ein schwerer Schlaganfall, der die Nervenzentren schwer beschädigt oder gar zerstört hatte, und es bestand kaum eine Chance, die eingetretenen Schäden zu heilen.
Schwestern betreuten ihn rund um die Uhr, und ein Heilgymnastiker arbeitete mit Toby, aber es waren alles leere Gesten.
Das Objekt dieser ganzen Aufmerksamkeit bot einen schauerlichen Anblick. Tobys Haut war gelblich geworden, und das Haar fiel ihm büschelweise aus. Seine gelähmten Glieder waren runzlig und sehnig. Auf seinem Gesicht stand das entsetzliche Grinsen, das er nicht kontrollieren konnte – der Kopf eines Toten.
Doch seine Augen waren lebendig. Und wie lebendig! Sie leuchteten mit der Kraft eines in einer nutzlosen Schale gefangenen Geistes. Jedesmal wenn Jill sein Zimmer betrat, folgten ihr Tobys Augen begierig. Worum baten sie? Dass sie ihn wieder gehen, wieder sprechen lehrte? Ihn wieder in einen Mann verwandelte?
Schweigend und nachdenklich blickte sie auf ihn hinunter. Ein Teil von mir liegt in diesem Bett, leidend, gefangen. Sie waren miteinander verbunden. Sie hätte alles gegeben, um Toby zu retten, sich selbst zu retten. Aber sie wusste, dass es aussichtslos war.
Unaufhörlich kamen Anrufe, und es war eine Wiederholung all jener anderen Telefonanrufe, all jener früheren Sympathiebeweise.
Aber dann kam ein anderer Anruf. David Kenyon meldete sich. »Ich wollte nur sagen, wenn ich etwas für dich tun kann – gleichgültig, was -, ich bin bereit.«
Jill rief sich seinen Anblick ins Gedächtnis, groß und stattlich und gesund, und sie dachte an die deformierte Karikatur eines Mannes im Zimmer nebenan. »Danke, David. Ich bin dir wirklich dankbar. Aber da ist nichts zu machen. Jedenfalls vorläufig nicht.«
»Wir haben hervorragende Ärzte in Houston«, sagte er. »Einige der besten in der Welt. Ich könnte veranlassen, dass sie ihn untersuchen.«
Jills Kehle zog sich zusammen. Wie sehr wünschte sie, dass David zu ihr käme, sie von hier fortbrächte! Aber es war nicht möglich. Sie war an Toby gefesselt, und sie wusste, dass sie ihn nie verlassen konnte.
Nicht, solange er lebte.
Dr. Kaplan hatte Toby gründlich untersucht. Jill wartete in der Bibliothek auf ihn. Sie drehte sich um, als er hereinkam. Der Arzt versuchte zu scherzen: »Tja, Jill, ich habe eine gute Nachricht, und ich habe eine schlechte Nachricht.«
»Sagen Sie mir die schlechte zuerst.«
»Ich fürchte, Tobys Nervensystem ist zu schwer beschädigt, als dass er je wieder gesund werden könnte. Daran besteht kein Zweifel. Er hat keine Chance. Er wird nie wieder gehen oder sprechen können.«
Sie blickte ihn lange an und fragte dann: »Und die gute Nachricht?« Dr. Kaplan lächelte. »Tobys Herz ist erstaunlich kräftig. Bei sorgfältiger Pflege kann er noch zwanzig Jahre leben.«
Jill blickte ihn ungläubig an. Zwanzig Jahre. War das die gute Nachricht? Sie sah sich an diese entsetzliche Fratze da oben gekettet, gefangen in einem Alptraum, aus dem es kein Entrinnen gab. Sie konnte sich nie von Toby scheiden lassen. Niemand würde das verstehen. Sie war die Heldin, die ihm das Leben gerettet hatte. Jeder würde sich verraten, betrogen fühlen, wenn sie ihn jetzt preisgab. Sogar David Kenyon.
David rief sie nun täglich an, und immer wieder versicherte er ihr, wie wunderbar ihre Treue und Selbstlosigkeit wäre, und beide waren sich des tiefen Gefühls für einander bewusst.
Unausgesprochen blieb der Satz: Wann stirbt Toby?
33.
Drei Krankenschwestern pflegten Toby im Schichtdienst rund um die Uhr. Sie waren flott, tüchtig und so unpersönlich wie Maschinen. Jill war dankbar für ihre Anwesenheit, denn sie konnte es nicht ertragen, in To-bys Nähe zu sein. Der Anblick dieser hässlichen, grinsenden Maske stieß sie ab. Sie fand alle möglichen Entschuldigungen, seinem Zimmer fernzubleiben. Wenn Jill sich zwang, zu ihm zu gehen, fühlte sie sofort eine
Veränderung in ihm. Selbst die Schwestern merkten es. Toby lag bewegungslos und hilflos da, versteinert in seiner gelähmten Hülle. Doch sowie Jill das Zimmer betrat, begann Vitalität aus diesen blauen Augen zu sprühen. Jill konnte Tobys Gedanken so klar lesen, als würde er laut sprechen: Lass mich nicht sterben. Hilf mir! Hilf mir!
Jill blickte auf seinen verfallenen Körper hinunter und dachte: Ich kann dir nicht helfen. Du möchtest so nicht leben. Du möchtest sterben.
Der Gedanke begann in Jill Gestalt anzunehmen.
Die Zeitungen waren voll von Geschichten über kranke Ehemänner, deren Frauen sie von ihren Schmerzen befreit hatten. Selbst einige Ärzte gaben zu, dass sie bewusst gewisse Patienten sterben ließen. Euthanasie nannte man das. Gnadentod. Aber Jill wusste, dass es auch Mord genannt werden konnte, obgleich nichts in Toby mehr lebte außer diesen verfluchten Augen, die ihr überallhin folgten.