In den nächsten Wochen verließ Jill das Haus nicht mehr. Die meiste Zeit schloss sie sich in ihrem Schlafzimmer ein. Ihre Kopfschmerzen waren wiedergekehrt, und sie konnte keine Linderung finden.
Zeitungen und Zeitschriften brachten Geschichten über den gelähmten Superstar und seine hingebungsvolle Frau, die ihn schon einmal gesund gepflegt hatte. Alle Zeitschriften stellten Vermutungen an, ob Jill dieses Wunder wiederholen könnte. Aber sie wusste, dass es keine Wunder mehr geben würde. Toby würde nie mehr gesund werden.
Zwanzig Jahre, hatte Dr. Kaplan gesagt. Und da draußen war David und wartete auf sie. Sie musste einen Weg finden, aus ihrem Gefängnis zu entkommen.
Es begann an einem dunklen, trüben Sonntag. Vormittags regnete es, und der Regen hielt den ganzen Tag an und trommelte auf das Dach und gegen die Fenster des Hauses, bis Jill glaubte, sie würde verrückt werden. Sie war in ihrem Schlafzimmer, las und versuchte, das eintönige Klopfen der Regentropfen aus ihren Gedanken zu verbannen, als die Nachtschwester hereinkam. Sie hieß Ingrid Johnson. Sie war steif und nordisch.
»Die Kochplatte oben funktioniert nicht«, meldete sie. »Ich muss in die Küche hinunter, um Mr. Temples Essen zu kochen. Könnten Sie ein paar Minuten bei ihm bleiben?«
Jill fühlte die Missbilligung in der Stimme der Schwester. Sie fand es seltsam, dass eine Frau die Nähe des Krankenbettes ihres Mannes mied. »Ich werde mich um ihn kümmern«, sagte Jill.
Sie legte das Buch weg und ging durch die Diele zu Tobys Krankenzimmer. Als sie den Raum betrat, drang ihr der bekannte Gestank in die Nase. Augenblicklich wurde ihr ganzes Bewusstsein von den Erinnerungen an jene langen, fürchterlichen Monate überflutet, als sie um Tobys Rettung gekämpft hatte.
Tobys Kopf ruhte auf einem großen Kissen. Als er Jill erkannte, be-
lebten sich seine Augen plötzlich, sandten rasende Botschaften aus. Wo bist du gewesen? Warum bist du mir ferngeblieben? Ich brauche dich. Hilf mir! Es war, als könnten seine Augen sprechen. Jill sah auf diesen widerlichen, verunstalteten Körper mit der grinsenden Totenmaske hinab und ekelte sich. Du wirst nie wieder gesund werden, hol dich der Teufel! Du musst sterben! Ich will, dass du stirbst!
Als Jill Toby anstarrte, bemerkte sie, wie sich der Ausdruck in seinen Augen veränderte. Sie zeigten Schock und Unglauben und begannen dann, sich mit Hass und einer so nackten Feindseligkeit zu füllen, dass Jill unwillkürlich einen Schritt vom Bett zurücktrat. Ihr wurde bewusst, was passiert war: Sie hatte ihre Gedanken laut ausgesprochen.
Sie drehte sich um und floh aus dem Zimmer.
Gegen Morgen hörte es auf zu regnen. Tobys alter Rollstuhl war vom Keller heraufgeholt worden. Die Tagesschwester fuhr Toby in seinem Stuhl in den Garten hinaus, damit er ein wenig Sonne abbekam. Jill hörte das Geräusch des Rollstuhls, der durch die Diele zum Fahrstuhl geschoben wurde. Sie wartete ein paar Augenblicke und ging dann hinunter. Sie kam an der Bibliothek vorbei, als das Telefon läutete. Es war David, der aus Washington anrief.
»Wie geht es dir heute?« Es klang warm und liebevoll.
Sie war noch nie so froh gewesen, seine Stimme zu hören. »Mir geht's gut, David.«
»Ich wünschte, du wärest bei mir, Liebling.«
»Ich auch. Ich liebe dich so sehr. Und ich brauche dich. Ich möchte, dass du mich in deinen Armen hältst. O David…«
Instinktiv drehte Jill sich um. Toby war in der Halle, festgeschnallt im Rollstuhl, wo ihn die Schwester einen Augenblick allein gelassen hatte. Die blauen Augen funkelten Jill Hasserfüllt und mit einer solchen Arglist an, dass es wie ein körperlicher Schlag war. Seine Gedanken sprachen zu ihr durch seine Augen, schrieen sie an: Ich bringe dich um! Jill ließ entsetzt den Hörer fallen.
Sie rannte aus dem Zimmer und die Treppe hinauf, spürte, wie Tobys Hass sie wie eine gewalttätige, böse Kraft verfolgte. Sie blieb den ganzen Tag in ihrem Zimmer, lehnte jedes Essen ab. Sie saß in einem tranceähnlichen Zustand in einem Sessel, und ihre Gedanken kreisten immer wieder um den Augenblick am Telefon. Toby wusste. Er wusste. Sie konnte ihm nicht mehr gegenübertreten.
Schließlich kam die Nacht. Es war Mitte Juli, und die Luft hielt noch die Hitze des Tages. Jill öffnete weit die Schlafzimmerfenster, um die wenn auch schwache Brise einzufangen.
In Tobys Zimmer hatte Schwester Gallagher Dienst. Sie ging auf Zehenspitzen hinein, um einen Blick auf ihren Patienten zu werfen. Schwester Gallagher wünschte, sie könnte seine Gedanken lesen, dann wäre es ihr vielleicht möglich, dem armen Mann zu helfen. Sie zog die Decken um
Toby fest. »Jetzt schlafen Sie gut«, sagte sie heiter. »Ich komme wieder, um nach Ihnen zu sehen.« Keine Reaktion. Er bewegte nicht einmal die Augen, um sie anzublicken.
Vielleicht ist es ganz gut, dass ich seine Gedanken nicht lesen kann, dachte Schwester Gallagher. Sie warf ihm einen letzten Blick zu und zog sich dann in ihren kleinen Aufenthaltsraum zurück, um sich eine späte Fernsehsendung anzusehen. Schwester Gallagher liebte Talk-Shows. Sie liebte es, Filmstars über sich selbst plaudern zu sehen. Das machte sie so furchtbar menschlich, fast wie gewöhnliche, alltägliche Leute. Sie stellte den Apparat leise, damit ihr Patient nicht gestört würde. Aber Toby Temple hätte es auf keinen Fall gehört. Seine Gedanken waren woanders.
Das Haus schlief ruhig und fest in der gut bewachten Geborgenheit des Bel-Air-Waldes. Vom Sunset Boulevard weit unten trieben gedämpft ein paar verschwommene Verkehrsgeräusche herauf. Schwester Gallagher sah sich einen späten Film an. Sie wünschte, es wäre einer der alten Toby-Temple-Filme. Das fände sie aufregend: Mr. Temple im Fernsehen zu sehen und zu wissen, dass er persönlich hier war, nur ein paar Meter von ihr entfernt.
Gegen vier Uhr morgens nickte Schwester Gallagher mitten in einem Horrorfilm ein.
In Tobys Schlafzimmer herrschte tiefe Stille.
In Jills Zimmer war das einzige vernehmbare Geräusch das Ticken der Uhr auf ihrem Nachttisch. Jill lag nackt im Bett. Sie schlief fest und hielt mit einem Arm ihr Kopfkissen umschlungen. Ihr Körper hob sich dunkel von den weißen Laken ab. Die Straßengeräusche waren gedämpft und klangen weit entfernt.
Jill warf sich ruhelos im Schlaf herum und fröstelte. Sie träumte, dass sie und David auf ihrer Hochzeitsreise in Alaska waren. Sie wanderten über eine weite, froststarre Ebene, und plötzlich kam ein Sturm auf. Der Wind wehte ihnen eisige Luft in die Gesichter, und sie konnten kaum atmen. Jill wandte sich nach David um, aber er war fort. Sie befand sich allein in der kalten Arktis, hustete und rang nach Luft.
Ein ersticktes Keuchen weckte Jill. Sie hörte ein grässliches, japsendes Schnaufen, ein Todesröcheln, und sie schlug die Augen auf. Das Geräusch kam aus ihrer eigenen Kehle. Sie konnte nicht atmen. Ein eisiger Luftmantel überzog sie wie eine obszöne Decke, liebkoste ihren nackten Körper, streichelte ihre Brüste, küsste ihre Lippen mit einem kalten, übelriechenden Atem, der nach Grab roch. Jills Herz klopfte wie wild, als sie um Luft rang. Ihre Lungen brannten vor Kälte. Sie versuchte, sich aufzusetzen, und es war, als hielte ein unsichtbares Gewicht sie nieder. Sie wusste, dass es ein Traum sein musste, aber gleichzeitig konnte sie dieses scheußliche Röcheln in ihrer Kehle hören, als sie nach Atem rang. Sie starb. Aber konnte man in einem bösen Traum sterben? Jill spürte, wie kalte Fühler ihren Körper erforschten, ihr zwischen die Beine und in sie hineindrangen, sie ausfüllten, und mit einer plötzlichen Gewissheit, die ihr Herz stocken ließ, erkannte sie, dass es Toby war. Irgendwie, auf irgendeine Art war es Toby. Und das aufwallende Entsetzen gab Jill die Kraft, sich ans Fußende vorzukrallen, nach Atem ringend, mit Geist und Körper um ihr Leben kämpfend. Sie erreichte den Boden, richtete sich mühsam auf und rannte auf die Tür zu, spürte, wie die Kälte sie verfolgte, sie umgab, nach ihr griff. Ihre Finger fanden den Türknauf und drehten ihn. Keuchend rannte sie in die Diele hinaus, ihre ausgehungerten Lungen mit Sauerstoff füllend.