«Dann wäre also die Dame in Mayfair die nächste.»
«Tommy, ich werde langsam mutlos.»
«Kopf hoch! Wir fangen ja erst an! Ziehen wir in London nur Nieten, steht uns eine schöne Reise quer durch England, Irland und Schottland bevor.»
«Richtig», rief Tuppence und war sogleich wieder belebt. «Aber dieser Vormittag war das Langweiligste vom Langweiligen.»
«Du musst die Sehnsucht nach vulgären Sensationen ein wenig unterdrücken, Tuppence. Es ist doch eigentlich fast ein Wunder, dass uns Mr Brown nicht schon längst umgebracht hat. Vielleicht meint er, es sei nicht der Mühe wert, sich mit uns zu befassen.»
Tuppence nahm diese Bemerkung höchst ungnädig auf. «Wie dumm von ihm», sagte sie.
«Vermutlich hat er keine Ahnung, was wir tun…»
South Audley Mansions war ein gewaltiger Wohnblock, nicht weit von Park Lane. Die Wohnung Nr. 20 lag im zweiten Stock.
Tommy hatte sich inzwischen die lässige Gewandtheit des alten Routiniers zugelegt. Er leierte vor einer älteren Frau, die eher einer Hausdame als einem Dienstmädchen glich, sein Sprüchlein herunter.
«Vorname?»
«Margaret.»
Tommy buchstabierte, aber die Frau unterbrach ihn.
«Nein, mit gue.»
«Oh, Marguerite; die französische Schreibweise, wie ich sehe.» Er hielt inne und machte dann einen kühnen Vorstoß. «Wir hatten sie als Rita Vandemeyer geführt, aber das war wohl falsch?»
«Sie wird zumeist so genannt, Sir, aber Marguerite ist ihr wirklicher Name.»
«Danke. Damit hätten wir’s.»
Kaum fähig, seine Erregung niederzuhalten, stürmte Tommy die Treppe hinab. Tuppence wartete am nächsten Absatz.
«Hast du das gehört?»
«Ja. Oh, Tommy.»
Tommy kniff ihr verständnisinnig in den Arm. «Ich weiß, alte Nuss. Ich bin genauso froh.»
«Man kann sich immer nicht vorstellen, dass sich Dinge, von denen man träumt, tatsächlich verwirklichen», rief Tuppence hingerissen.
Ihre Hand lag noch immer in Tommys Hand. Sie waren inzwischen in die Diele des Hauses gelangt. Über ihnen waren Stimmen und Schritte zu hören.
Plötzlich riss Tuppence Tommy in eine kleine Nische neben dem Aufzug.
Zwei Männer kamen die Treppe herunter und gingen hinaus. Tuppences Hand krampfte sich in Tommys Arm. «Schnell, folg ihnen. Ich wage es nicht. Er könnte mich wiedererkennen. Ich weiß nicht, wer der andere Mann ist – aber der größere von beiden ist Whittington.»
7
Whittington und sein Begleiter entfernten sich mit raschen Schritten. Tommy folgte ihnen schnell und als er an der Ecke anlangte, war der Abstand zwischen ihnen bereits erheblich geringer. Die kleinen Straßen in Mayfair waren verhältnismäßig menschenleer und er hielt es für besser, sich damit zu begnügen, ihnen in einer gewissen Entfernung zu folgen.
Für ihn war es ein neuer Sport und er musste bald feststellen, dass es mancherlei Schwierigkeiten gab, von denen er nichts geahnt hatte. Die Männer verfolgten einen Zickzackkurs, mit dem sie offenbar so schnell wie möglich zur Oxford Street zu gelangen suchten. Als sie schließlich in sie einbogen und in östlicher Richtung weitergingen, beschleunigte Tommy ein wenig seinen Schritt. Nach und nach holte er sie ein. In Anbetracht der vielen Menschen war es höchst unwahrscheinlich, dass er ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
Kurz vor der U-Bahn-Station Bond Street überquerten sie die Straße; Tommy blieb ihnen unauffällig auf den Fersen. Dann betraten sie das große Lokal von Lyons. Sie stiegen in den ersten Stock und setzten sich an einen kleinen Tisch am Fenster. Es war schon spät und die meisten Leute verließen den Raum. Tommy setzte sich an den Nebentisch, hinter Whittington, für den Fall, dass der ihn doch erkennen würde. Außerdem konnte er den anderen Mann auf diese Weise ungehindert betrachten. Er war blond und hatte ein unangenehmes Gesicht. Tommy hielt ihn für einen Russen oder Polen. Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein. Seine kleinen, listigen Augen waren unaufhörlich in Bewegung.
Tommy schnappte das Wort «Irland» auf, mehrfach auch «Propaganda», von Jane Finn war nicht die Rede. Plötzlich aber – das Summen und Klappern im Raum war gerade einmal abgebrochen – vermochte er mehrere Sätze aufzufangen. Es war Whittington, der sprach: «Ach, und Sie kennen Flossie nicht. Sie ist ein reines Wunder. Ein Erzbischof würde einen Eid darauf ablegen, sie sei seine eigene Mutter. Jedes Mal trifft sie die Stimme ganz genau, und das ist es ja, worauf es ankommt, Boris.»
Tommy konnte Boris’ Antwort nicht hören, aber in Erwiderung darauf sagte Whittington etwas, das klang wie: «Natürlich… nur im Notfall…»
Dann verlor er wieder den Faden. Nach einer Weile jedoch wurden die Sätze wieder deutlich. Zwei Worte übten auf ihn eine geradezu elektrisierende Wirkung aus. Boris hatte sie ausgesprochen: «Mr Brown.»
Whittington schien Einwendungen zu machen, aber Boris lachte nur.
«Warum denn nicht, mein Freund? Es ist doch ein höchst achtbarer Name – und ganz alltäglich. Hat er ihn sich nicht aus diesem Grunde zugelegt? Ach, ich würde ihn zu gern kennen lernen, diesen Mr Brown.»
In Whittingtons Stimme lag ein stählerner Klang, als er antwortete: «Vielleicht sind Sie ihm schon einmal begegnet?»
«Unsinn! Das ist doch Geschwätz. Vielleicht ist das alles nur ein Märchen, das sich der Innere Ring ausgedacht hat – ein Märchen für die Polizei. Und eine Vogelscheuche, um uns in Atem zu halten. Könnte es nicht so sein?»
«Und es könnte auch anders sein.»
«Ich frage mich – ist das wirklich wahr, dass er uns und allen, bis auf ein paar Auserwählten, unbekannt ist? In dem Fall hat er sein Geheimnis gut zu wahren verstanden. Der Gedanke ist natürlich gut. Wir sehen einander an – einer von uns ist Mr Brown – aber welcher? Er befiehlt – aber er führt auch aus. Irgendwo unter uns, irgendwo in unserer Mitte. Und niemand weiß, wer es ist…»
Der Russe blickte auf seine Uhr.
«Ja», sagte Whittington, «wir müssen gehen.»
Draußen rief Whittington ein Taxi und bat zum Bahnhof Waterloo gefahren zu werden.
An Taxis fehlte es hier nicht und bevor Whittington abgefahren war, hatte Tommy das nächste. Die Fahrt selber verlief ohne jede Aufregung. Tommys Taxi blieb gleich hinter Whittingtons an der Abfahrtsrampe stehen. Tommy stand auch am Schalter hinter Whittington. Er löste eine Fahrkarte erster Klasse nach Bournemouth; Tommy tat das Gleiche. Als er wieder in der Nähe der anderen stehen blieb, äußerte Boris, nachdem er einen Blick auf die Uhr geworfen hatte: «Sie sind früh dran. Sie haben noch fast eine halbe Stunde Zeit.»
Boris’ Worte hatten bei Tommy eine neue Folge von Gedanken ausgelöst. Offensichtlich unternahm Whittington die Reise allein, während der andere in London blieb. Tommy hatte also die Wahl, welchem von beiden er folgen wollte. Schließlich konnte er nicht beide zugleich verfolgen – es sei denn… Ebenso wie Boris blickte er nun zur Uhr hinauf und dann auf die Tafel mit den Abfahrtszeiten der Züge. Der Zug nach Bournemouth sollte um drei Uhr dreißig abfahren. Jetzt war es zehn Minuten nach drei. Whittington und Boris gingen vor dem Bücherstand auf und ab. Er warf ihnen einen zweifelnden Blick zu und eilte dann in die nächste Telefonzelle. Er versuchte gar nicht erst, mit Tuppence in Verbindung zu treten; höchstwahrscheinlich befand sie sich noch in der Nähe der South Audley Mansions. Aber er hatte ja noch einen anderen Verbündeten. Er rief das Ritz an und ließ sich mit Hersheimer verbinden. Ein Klicken und Summen. Ach, wenn nur der junge Amerikaner in seinem Zimmer wäre! Noch ein Klicken und dann, mit dem unmissverständlichen Akzent, das Wörtchen: «Hallo!»