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«Hersheimer, sind Sie’s? Hier spricht Beresford. Ich bin am Bahnhof Waterloo. Ich bin Whittington und einem anderen Mann hierher gefolgt. Keine Zeit zur Erklärung. Whittington soll um drei Uhr dreißig nach Bournemouth abreisen. Können Sie bis dahin hier sein?»

Hersheimer bejahte. «Aber sicher. Ich beeile mich.»

Mit einem Seufzer der Erleichterung legte Tommy den Hörer zurück.

Whittington und Boris waren noch immer dort, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Wenn Boris bis zur Abfahrt seines Freundes wartete, war alles in Ordnung. Dann durchsuchte Tommy seine Taschen. Trotz der Blankovollmacht für Spesen hatte er es sich noch immer nicht zur Gewohnheit gemacht, eine größere Geldsumme bei sich zu haben. Nachdem er die Fahrkarte erster Klasse nach Bournemouth bezahlt hatte, waren ihm nur nach ein paar Shillinge übrig geblieben. Es war zu hoffen, dass Hersheimer ein wenig besser ausgerüstet war.

Nun begannen die Minuten immer schneller zu verstreichen. Angenommen, Hersheimer käme nicht mehr rechtzeitig… Tommy packte die Verzweiflung. Da legte sich eine Hand auf seine Schulter.

«Da bin ich, mein Sohn. Dieser britische Verkehr spottet jeder Beschreibung. Zeigen Sie mir schnell die Kerle.»

«Der da ist Whittington – der jetzt einsteigt, der große dunkle. Der andere, mit dem er spricht, ist der Ausländer.»

«Verstanden. Und welcher von beiden ist nun mein Wild?»

«Haben Sie Geld bei sich?» Hersheimer schüttelte den Kopf, und Tommy machte ein mutloses Gesicht.

«Ich habe nicht mehr als drei- oder vierhundert Dollar bei mir», erklärte der Amerikaner.

Tommy stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. «Mein Gott, ihr Millionäre! Da ist Ihre Fahrkarte. Whittington ist Ihr Mann.»

Der Zug fuhr gerade ab, als Hersheimer hineinsprang. «Bis bald, Tommy!» Dann glitt der Zug aus der Halle.

Von Waterloo nahm Boris die U-Bahn bis Piccadilly Circus. Dann ging er die Shaftesbury Avenue entlang und bog schließlich in ein Gewirr kleiner Gassen in Soho ein. Tommy folgte ihm vorsichtig.

Sie gelangten auf einen kleinen, unansehnlichen Platz. Boris blickte um sich und Tommy zog sich in einen Hauseingang zurück. Im Schutz des Eingangs sah er ihn die Stufen zu einem besonders übel aussehenden Haus hinaufsteigen und hörte ihn in einem bestimmten Rhythmus gegen die Tür schlagen. Sie wurde sogleich geöffnet, Boris sagte etwas und trat ein. Hinter ihm schloss sich wieder die Tür.

In diesem kritischen Augenblick verlor Tommy den Kopf. Er hätte geduldig dort stehen bleiben und warten müssen, bis der Mann wieder herauskam. Aber nicht Tommy. Ohne auch nur einen Augenblick zu überlegen, stieg er ebenfalls die Stufen hinauf und wiederholte, so gut es ging, den Klopfrhythmus.

Ebenso schnell wie zuvor ging die Tür auf. Ein Mann mit einem niederträchtigen Gesicht und bürstenartig kurz geschnittenen Haaren stand in der Tür. «Was gibt’s?»

In diesem Augenblick wurde Tommy das ganze Ausmaß seines wahnsinnigen Unterfangens bewusst. Nun aber wagte er nicht mehr zu zögern. Er stieß die ersten Worte aus, die ihm in den Sinn kamen. «Mr Brown?», fragte er.

Zu seiner Überraschung trat der Mann zur Seite. «Oben», sagte er, «erste Tür links.» 

8

So überrascht Tommy auch war, er zauderte keinen Augenblick. Leise stieg er die baufällige Treppe hinauf. Das Haus war unvorstellbar schmutzig. Die schmierige Tapete hing in losen Fetzen von den Wänden.

Als er schließlich am nächsten Treppenabsatz anlangte, hörte er unten den Mann in einem Hinterzimmer verschwinden. Offensichtlich hatte er keinen Argwohn geweckt. Es schien etwas völlig Natürliches und Selbstverständliches zu sein, in diesem Haus nach «Mr Brown» zu fragen.

Oben blieb Tommy stehen und überlegte. Vor sich sah er einen engen Flur, von dem nach beiden Seiten Türen abgingen. Hinter der einen war ein leises Gemurmel vernehmbar. Es war die Tür, die der Mann ihm gewiesen hatte. Aber weit mehr interessierte ihn eine kleine Nische rechts, die von einem zerrissenen Samtvorhang halb verdeckt war. Sie lag der Tür zur Linken genau gegenüber und man konnte von dort aus auch den oberen Teil der Treppe gut im Auge behalten. Als Versteck für einen Mann, zur Not für zwei, war diese Nische außerordentlich geeignet.

An der Haustür war wieder das charakteristische Klopfen zu vernehmen und Tommy schlüpfte kurz entschlossen in die Nische und zog behutsam den Vorhang ganz vor. In dem zerschlissenen Stoff waren Risse und Löcher, so dass er beobachten und erst einmal die weiteren Ereignisse abwarten konnte. Der Mann, der leichtfüßig die Treppe heraufkam, war ihm unbekannt. Er gehörte offensichtlich dem untersten Bodensatz der Gesellschaft an. Die Brutalität, die in seiner ganzen Haltung zum Ausdruck kam, deutete auf die Sorte, die Scotland Yard auf den ersten Blick erkennt.

Der Mann blieb an der Tür gegenüber stehen und wiederholte das Klopfzeichen. Eine Stimme rief etwas und der Mann öffnete die Tür und trat ein, wobei Tommy einen flüchtigen Blick hineinwerfen konnte. Es saßen vier oder fünf Männer um einen langen Tisch. Am meisten fiel ihm ein großer Mann mit kurz geschnittenem Haar und einem kleinen Spitzbart auf. Er saß an dem einen Ende des Tisches und hatte vor sich Papiere liegen. Als der Neuankömmling eintrat, fragte er mit einer seltsam akzentuierten Betonung: «Deine Nummer, Genosse?»

«Vierzehn, Chef», antwortete der andere rau.

«Richtig.»

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

«Das könnte gut ein Deutscher sein», sagte Tommy zu sich selber. «Ein Glück, dass ich nicht hineingewalzt bin. Bestimmt hätte ich die falsche Nummer angegeben und dann wäre der Teufel los gewesen. Donnerwetter, da klopft es ja schon wieder.»

Der neue Besucher unterschied sich erheblich von dem Vorhergehenden. Tommy stufte ihn als Angehörigen der Irischen Freiheitsbewegung ein. Ganz gewiss war Mr Browns Organisation ein weit verzweigtes Unternehmen. Der Verbrechertyp, der wohlerzogene Ire, der bleiche Russe und der tüchtige deutsche Zeremonienmeister. Und wer war der Mann, der all diese Glieder einer unbekannten Kette in Händen hielt?

In rascher Folge wurde unten an der Tür geklopft. Der erste Mann ließ sich nirgends einordnen, bestenfalls als Büroangestellter. Ein stiller, intelligent aussehender Mann, der ziemlich schäbig gekleidet war. Der zweite war wohl ein Arbeiter und sein Gesicht kam dem jungen Mann bekannt vor.

Drei Minuten später kam noch einer, ein Mann, der hervorragend gekleidet und anscheinend aus gutem Hause war. Man sah ihm an, dass er zu denen gehörte, die etwas zu sagen haben. Seltsamerweise schien auch sein Gesicht Tommy nicht unbekannt.

Nach seinem Eintreffen musste Tommy lange warten. Er glaubte schon, die Versammlung sei vollständig, als ein neues Klopfen ertönte.

Der letzte Ankömmling war ein kleiner, sehr blasser Mann, mit geschmeidigen, fast femininen Bewegungen. Seine etwas hochliegenden Backenknochen ließen auf slawische Abstammung schließen. Als er an der Nische vorbeiging, wandte er langsam den Kopf. Die seltsam hellen Augen schienen durch den Vorhang hindurchzublicken. Tommy konnte kaum glauben, dass der Mann ihn nicht entdeckt hatte. Er erinnerte an eine Giftschlange.

Einen Augenblick später erwies sich sein Eindruck als richtig. Der Neue klopfte ebenso wie alle anderen, aber es wurde ihm ein ganz anderer Empfang zuteil. Der bärtige Mann erhob sich, und alle anderen folgten ihm. «Es ist uns eine große Ehre», sagte er. «Ich fürchtete schon, es sei unmöglich.»

«Es hat Schwierigkeiten gegeben. Noch einmal wird es nicht möglich sein, fürchte ich. Aber die Versammlung ist unbedingt notwendig; ich muss meine weiteren Pläne darlegen. Ich kann ohne Mr Brown nichts unternehmen. Ist er hier?»

«Es ist ihm nicht möglich, persönlich anwesend zu sein.»

Langsam glitt ein Lächeln über das Gesicht des anderen. «Ich verstehe schon. Ich habe von seinen Methoden gehört. Er arbeitet im Dunkeln und traut niemandem. Dennoch ist es möglich, dass er sich auch in diesem Augenblick unter uns befindet…»