Nun erhob sich die Frage, was als Nächstes zu tun sei. Tuppence ertrug es nicht, lange untätig zu bleiben, und so kehrte sie zunächst einmal in die Eingangshalle des Hauses zurück, in dem Rita Vandemeyer wohnte.
Inzwischen war dort ein kleiner Fahrstuhlführer aufgetaucht, fast noch ein Kind. Er putzte die Messingverzierungen blank und pfiff den letzten Schlager.
«Na, William», bemerkte sie aufmunternd – diese Art der Menschenbehandlung hatte sie im Lazarett zur Genüge gelernt –, «bringst du alles auf Hochglanz?»
Der Junge grinste. «Albert, Miss», verbesserte er.
«Also gut, Albert», sagte Tuppence. Sie sah sich ein wenig auffällig in der Halle um. Sie ließ sich dabei Zeit, damit Albert es auch bemerkte. «Ich möchte dich gern mal etwas fragen, Albert.»
Albert hörte mit dem Putzen auf.
«Weißt du, was das ist?» Mit einer dramatischen Bewegung klappte sie den Aufschlag ihres Mantels auf und ließ ein kleines Abzeichen sehen. Es war höchst unwahrscheinlich, dass Albert es kannte – für Tuppence wäre es auf jeden Fall eine Katastrophe gewesen, denn dieses Abzeichen war das einer örtlichen Ausbildungseinheit, die ihr Vater zu Anfang des Krieges ins Leben gerufen hatte. Dass sie dies Abzeichen anstecken hatte, war lediglich dem Umstand zu verdanken, dass sie sich vor ein paar Tagen damit eine Blume angesteckt hatte. Tuppence hatte scharfe Augen und so hatte sie die Ecke eines billigen Kriminalromans aus Alberts Tasche herausragen sehen. Als sich seine Augen weiteten, wusste sie, dass sie die richtige Taktik eingeschlagen hatte.
«Amerikanischer Geheimdienst», flüsterte sie.
Albert fiel ohne weiteres darauf herein. «Mein Gott!», murmelte er.
Tuppence nickte. «Weißt du, hinter wem ich her bin?», fragte sie.
Atemlos fragte Albert, seine Augen noch immer weit aufgerissen: «Jemand von hier?»
Tuppence nickte. «Nummer zwanzig. Nennt sich Vandemeyer. Vandemeyer. Dass ich nicht lache.»
Alberts Hand tastete in seine Tasche, als suchte er dort beim Kriminalroman Unterstützung. «Eine Verbrecherin?»
«In den Staaten heißt sie: Die tolle Rita.»
«Die tolle Rita», wiederholte Albert begeistert. «Das ist ja wie im Film.»
Das war es auch. Tuppence war selber sehr filmbegeistert.
«Annie hat schon immer gesagt, dass sie eine üble Nummer ist», fuhr der Junge fort.
«Wer ist denn Annie?»
«Das Zimmermädchen. Es geht heute. Oft genug hat Annie zu mir gesagt: ‹Pass nur auf, Albert, und denk daran: Mich würde es nicht wundern, wenn die Polizei sie eines Tages holt.› Aber sie sieht doch fantastisch aus, was?»
«Fabelhaft. Hat sie übrigens die Smaragde getragen?»
«Smaragde? Das sind doch solche grünen Steine?»
Tuppence nickte. «Deswegen sind wir ja hinter ihr her. Hast du mal was von dem alten Rysdale gehört?»
Albert schüttelte den Kopf.
«Von Peter B. Rysdale, dem Ölkönig?»
«Kommt mir irgendwie bekannt vor.»
«Die Steine haben ihm gehört. Er hatte die schönste Smaragdsammlung der Welt. Eine Million Dollar wert.»
«Ich werd verrückt!», rief Albert ganz erregt. «Ist ja immer mehr wie im Film.»
Tuppence lächelte, froh über ihren Erfolg. «Wir haben noch nicht alle Beweise. Aber wir sind hinter ihr her. Und», sie blinzelte ihm zu, «ich glaube, dieses Mal entwischt sie uns nicht mehr mit den Steinen.»
Wieder stieß Albert einen unterdrückten Ruf der Begeisterung aus.
«Aber hör zu, mein Sohn, nicht ein Wort darüber», warnte Tuppence. «Wahrscheinlich hätte ich dir nichts davon sagen sollen, aber drüben in Amerika wissen wir gleich, wenn wir es mit einem intelligenten Jungen zu tun haben.»
«Keine Angst», erwiderte Albert, sehr von seiner Bedeutung eingenommen. «Kann ich irgendwas für Sie tun? Ihr ein bisschen nachspionieren oder so?»
Tuppence tat, als dächte sie nach. «Im Augenblick nicht, aber ich werde an dich denken. Sag mal, was ist nun mit dem Mädchen? Es geht?»
«Annie? Die haben sich ordentlich in den Haaren gelegen. Wie Annie sagt, sind Hausangestellte heutzutage Leute, die eine ganz andere Rolle spielen als früher und entsprechend behandelt werden müssen. Und da Annie überall darüber redet, wird die da oben nicht so leicht eine andere finden.»
«Meinst du?», fragte Tuppence nachdenklich. Ein neuer Gedanke kam ihr in den Kopf. Sie schlug Albert auf die Schulter. «Hör mal zu, Albert! Wie wäre es, wenn du erwähntest, du hättest eine junge Kusine, die für die Stellung in Frage kommen könnte. Hast du mich verstanden?»
«Vollkommen. Überlassen Sie das nur mir! Das werden wir gleich haben.»
«Du könntest noch sagen, dass die Betreffende gleich anfangen könnte. Du gibst mir Bescheid, ja? Ich kann morgen um elf Uhr hier sein.»
«Wohin soll ich es Ihnen mitteilen?»
«Ich wohne im Ritz, und heiße Cowley.»
Albert starrte sie neidisch an. «Das muss eine feine Arbeit sein beim Geheimdienst.»
«Bestimmt, besonders, wenn ein Mann wie der alte Rysdale mit seinem Geld dahinter steht. Aber mach dir keine Sorgen, mein Junge. Wenn die Sache gut geht, hast du auch den ersten Schritt getan, das verspreche ich dir.»
Sie kehrte ins Ritz zurück und schrieb ein paar Worte an Mr Carter. Nachdem sie den Brief abgesandt hatte, ging sie in die Stadt, um ein wenig einzukaufen. Das dauerte mit einer Pause für Tee und Torte bis nach sechs Uhr. Dann kehrte sie zufrieden mit ihren Besorgungen ins Hotel zurück. Nachdem sie in einem billigen Kleidergeschäft angefangen und noch ein oder zwei bessere Geschäfte aufgesucht hatte, war sie schließlich bei einem der bekanntesten Friseure gelandet. Nun packte sie in ihrem Schlafzimmer ihre letzte Erwerbung aus. Fünf Minuten später lächelte sie ihrem Spiegelbild zufrieden zu. Mit einem Stift hatte sie die Linie ihrer Augenbrauen ein wenig verändert und dies verwandelte ihr Aussehen zusammen mit der Perücke aus dichtem, blondem Haar so sehr, dass sie überzeugt war, Whittington würde sie nicht erkennen. Häubchen und Schürze würden ein Übriges tun. Aus ihrer Erfahrung im Lazarett wusste sie nur zu gut, dass eine Schwester, die nicht in Tracht war, von ihren Patienten häufig nicht erkannt wurde.
Beim Abendessen fühlte sich Tuppence einsam. Sie war verwundert darüber, dass Tommy noch immer nicht zurückgekehrt war. Auch Hersheimer war nicht da – aber das ließ sich leichter erklären. Bei seinen Bemühungen, den Behörden etwas Dampf zu machen, beschränkte er sich nicht auf London. Die Jungen Abenteurer hatten sich schon daran gewöhnt, ihn im Lauf eines Tages plötzlich und unerwartet auftauchen und wieder verschwinden zu sehen. Diesem energischen jungen Mann war es gelungen, einigen Beamten bei Scotland Yard die Hölle heiß zu machen, und die Telefonistinnen in der Admiralität hatten es gelernt, sein wohl bekanntes «Hallo» zu fürchten. Er war drei Stunden in Paris gewesen und hatte die Präfektur nervös gemacht. Von dort war er ganz von dem Gedanken durchdrungen zurückgekehrt, ein Schlüssel zu Jane Finns Verschwinden ließe sich vielleicht in Irland finden. Offenbar hatte ein besonders gerissener französischer Beamter ihm diesen Ausweg genannt, um sich seiner zu entledigen.
Am nächsten Morgen erhielt Tuppence ein Schreiben von Mr Carter:
Liebe Miss Tuppence,
Sie haben einen großartigen Anfang gemacht und ich beglückwünsche Sie. Ich halte es jedoch für meine Pflicht, Sie nochmals auf die Gefahren aufmerksam zu machen, denen Sie sich aussetzen, vor allem, wenn Sie den von Ihnen aufgezeichneten Weg beschreiten wollen. Diese Menschen kennen keine Rücksicht. Ich habe den Eindruck, dass Sie die Gefahr unterschätzen, und möchte Sie daher erneut darauf hinweisen, dass ich Ihnen keinerlei Schutz versprechen kann. Sie haben uns sehr wertvolle Informationen verschafft und wenn Sie es vorziehen, jetzt aufzuhören, wird Ihnen niemand einen Vorwurf machen. Auf jeden Fall überlegen Sie sich die Sache noch einmal genau, bevor Sie Ihre Entscheidung treffen.