«Sie sind noch nicht lange Zimmermädchen, nicht wahr?»
Erstaunt blickte Tuppence ihn an.
Er nickte, als hätte sie geantwortet. «Beim Weiblichen Hilfsdienst gewesen, nicht wahr? Und jetzt in Schwierigkeiten?»
«Hat Mrs Vandemeyer es Ihnen erzählt?»
«Nein, mein Kind, das habe ich Ihnen angesehen. Ist es eine gute Stelle hier?»
«Sehr gut, danke, Sir.»
«Ja, aber es gibt heutzutage viele gute Stellen. Und manchmal schadet ein Wechsel nichts.»
«Wollen Sie damit sagen…?»
Aber Sir James stand schon auf der obersten Stufe. Sie fühlte wieder seinen klugen Blick auf sich ruhen.
«Nur ein kleiner Hinweis», sagte er und ging.
11
Tuppence trat ihren freien Nachmittag an. Albert war gerade nicht da; so begab sie sich selber in das Schreibwarengeschäft, wo sie erfuhr, dass immer noch nichts für sie da war. Danach fuhr sie zum Ritz; dort hörte sie, dass Tommy noch nicht zurückgekehrt sei. Da beschloss sie, sich an Mr Carter zu wenden und ihm zu berichten, wann und wo Tommy seine Verfolgung aufgenommen hatte. Der Gedanke an seine Hilfe stärkte ihre Zuversicht. Als sie sich nach Hersheimer erkundigte, hieß es, er sei vor etwa einer halben Stunde gekommen, jedoch gleich wieder gegangen. Sie hätte ihn gern gesehen. Vielleicht hatte er einen Gedanken, wie man Tommy wiederfinden konnte. Sie hatte gerade ihren Brief an Mr Carter in Hersheimers Wohnzimmer geschrieben und in einen Umschlag gesteckt, als die Tür aufgerissen wurde.
«Hol’s doch der Teufel!», stieß Julius hervor, «Verzeihung, Miss Tuppence, aber diese Idioten unten beim Empfang behaupten, Beresford wäre seit Mittwoch nicht mehr erschienen. Stimmt das?»
Tuppence nickte. «Sie wissen nicht zufällig, wo er ist?»
«Ich? Wie soll ich denn das wissen? Ich habe ja nicht ein Wort mehr von ihm gehört, obwohl ich ihm gestern früh telegrafiert habe.»
«Dann wird wohl Ihr Telegramm noch ungeöffnet unten liegen.»
«Aber wo ist denn er?»
«Ich weiß es nicht, ich hoffte, Sie wüssten etwas.»
«Ich sage Ihnen doch, ich habe, seit wir uns am Bahnhof trennten, nicht ein Wort von ihm gehört.»
«An welchem Bahnhof?»
«Am Waterloo-Bahnhof.»
«Waterloo?» Tuppence furchte die Stirn.
«Ja. Hat er Ihnen denn nichts gesagt?»
«Ich habe ihn doch auch nicht gesehen», antwortete Tuppence ungeduldig. «Was haben Sie denn am Waterloo-Bahnhof gemacht?»
«Er hatte mich angerufen und mir gesagt, ich sollte mich beeilen. Er wäre zwei Burschen auf der Spur.»
«Jetzt verstehe ich.»
«Ich machte mich sogleich auf den Weg. Beresford war da und zeigte mir die beiden Burschen. Der große war für mich, es war derselbe, dem Sie eins ausgewischt hatten. Tommy gab mir eine Fahrkarte und sagte mir, ich sollte einsteigen. Er wollte dem anderen folgen.» Hersheimer hielt inne. «Ich dachte, Sie wüssten das alles.»
«Ach», rief Tuppence, «laufen Sie doch nicht ständig auf und ab, lieber Hersheimer. Mir wird ganz schwindlig. Setzen Sie sich und erzählen Sie die Geschichte.»
Hersheimer gehorchte.
«Ich stieg also in eines Ihrer altmodischen britischen Abteile erster Klasse», begann Hersheimer. «Der Zug fuhr schon an. Dann näherte sich mir zunächst ein Schaffner und erklärte mir sehr höflich, dass ich nicht in einem Raucherabteil säße. Ich gab ihm einen halben Dollar und damit war auch die Sache erledigt. Nun ging ich durch den Gang in den nächsten Wagen, um mich ein wenig umzusehen. Dort saß Whittington. Als ich den Kerl mit seinem breiten, dicken Gesicht sah und an unsere arme kleine Jane dachte, die vielleicht in seinen Klauen war, hätte ich ihm am liebsten eins verpasst.
In Bournemouth nahm Whittington einen Wagen und nannte den Namen eines Hotels. Ich tat das Gleiche und wir gelangten in einem Abstand von drei Minuten dort an. Er nahm sich ein Zimmer, und ich nahm mir auch eins. Um neun Uhr nahm er einen Wagen und fuhr durch die Stadt – übrigens ein wirklich netter Ort. Er bezahlte den Wagen und ging am Rand einer dieser Kiefernwaldungen oben auf der Steilküste spazieren. Ich war selbstverständlich auch da. Schließlich gelangten wir zu einem Haus, das das letzte in der Reihe zu sein schien. Ein großes Haus mit vielen Bäumen drum herum.
Es war eine sehr dunkle Nacht, und die Anfahrt zum Haus lag in völliger Finsternis. Ich kam um eine Biegung und sah gerade noch, wie er an der Haustür klingelte und eingelassen wurde. Ich blieb stehen, wo ich stand. Es begann zu regnen und ich war bald völlig durchnässt. Es war auch sehr kalt.
Whittington kam nicht mehr heraus, und nach und nach wurde mir die Zeit lang, und ich begann, mich ein wenig umzusehen. Alle Fenster im Parterre waren mit Läden verschlossen, aber oben im ersten Stock bemerkte ich ein Fenster, hinter dem Licht brannte. Die Vorhänge waren nicht vorgezogen.
Diesem Fenster gegenüber stand ein Baum, etwa zehn Meter vom Haus entfernt. Natürlich wusste ich, dass Whittington sich nicht unbedingt in diesem Zimmer aufzuhalten brauchte. Aber ich hatte wohl schon zu lange draußen im Regen gestanden und musste etwas unternehmen. So begann ich also hinaufzuklettern.
Das Zimmer war mittelgroß und spärlich eingerichtet, wie in einem Krankenhaus. In der Mitte stand ein Tisch, darauf eine Lampe; an dem Tisch saß tatsächlich Whittington, das Gesicht mir zugewandt. Er sprach mit einer Frau in Schwesterntracht. Sie kehrte mir den Rücken zu. Die Jalousie war zwar hochgezogen, das Fenster aber geschlossen, so dass ich nicht ein Wort verstehen konnte. Whittington sprach sehr energisch und schlug ein paar Mal mit der Faust auf den Tisch. Inzwischen hatte es übrigens aufgehört zu regnen.
Schließlich erhob er sich und da stand auch sie auf. Er blickte zum Fenster hin und sagte etwas – ich nehme an, dass sich dies auf den Regen bezog. Jedenfalls trat sie ans Fenster und blickte hinaus. In diesem Augenblick kam der Mond hinter den Wolken hervor. Ich fürchtete, die Frau könnte mich entdecken, denn ich war vom Mondlicht übergossen. Ich versuchte, mich ein Stück zurückzuziehen, aber die Bewegung war für meinen Ast wohl zu heftig gewesen. Krachend stürzte er hinunter und Julius P. Hersheimer mit ihm.»
«Oh, wie schrecklich!», stieß Tuppence hervor.
«Zu meinem Glück landete ich auf einem frisch umgegrabenen Beet; aber selbstverständlich war ich für einige Zeit außer Gefecht gesetzt. Als Nächstes merkte ich, dass ich in einem Bett lag; neben mir saß eine Krankenschwester (aber nicht die von Whittington); auf der anderen Seite des Bettes stand ein kleiner schwarzbärtiger Mann mit goldumrandeter Brille, offensichtlich ein Arzt. Er rieb sich die Hände und zog die Augenbrauen hoch, als ich ihn ansah. ‹Ah!›, sagte er. ‹Unser junger Freund kommt wieder zu sich.›
Ich erwiderte das in solchen Fällen Übliche: ‹Was ist denn geschehen?› Und: ‹Wo bin ich?› Aber die Antwort kannte ich ja ganz genau. ‹Ich glaube, wir brauchen Sie im Augenblick nicht mehr›, sagte der kleine Mann und die Schwester verließ das Zimmer. Ich bemerkte noch, wie sie mich in der Tür mit großer Neugier ansah.
Dieser Blick brachte mich auf einen Gedanken. ‹Also, Herr Doktor›, begann ich und versuchte mich im Bett aufzusetzen, aber meinen rechten Fuß durchfuhr dabei ein heftiger Schmerz. ‹Eine leichte Verstauchung›, erklärte der Arzt. ‹Nichts Ernsthaftes. In ein paar Tagen laufen Sie schon wieder herum.›»
«Ich habe schon bemerkt, dass Sie etwas hinken», warf Tuppence ein.
Hersheimer nickte. «‹Wie ist es denn geschehen?›, fragte ich.
Darauf antwortete er ganz trocken: ‹Sie sind mit einem ansehnlichen Teil eines meiner Bäume in eines meiner neu bepflanzten Beete gefallen.›
Mir gefiel der Mann. Ich war sicher, dass zumindest er ein durch und durch anständiger Kerl war. ‹Die Sache mit dem Baum tut mir sehr Leid, Herr Doktor›, antwortete ich. ‹Aber vielleicht würde es Sie interessieren, zu erfahren, was ich in Ihrem Garten trieb?› – ‹Ja, ich glaube, dass die Umstände eine gewisse Erklärung erfordern›, erwiderte er. – ‹Nun ja, zunächst einmal möchte ich feststellen, dass ich es nicht auf Ihre silbernen Löffel abgesehen hatte.› Er lächelte. ‹Das war meine erste Annahme. Doch ich habe schon bald meine Ansicht geändert. Übrigens – sind Sie Amerikaner?› Ich nannte ihm meinen Namen. ‹Und Sie?› – ‹Ich heiße Hall und dies ist, wie Sie wahrscheinlich wissen, mein Privatsanatorium.›