Ich murmelte etwas von einem Mädchen und erzählte eine Geschichte von einem strengen Vormund und einem Nervenzusammenbruch und erklärte ihm schließlich, ich hätte mir eingebildet, unter seinen Patienten das Mädchen erkannt zu haben. Daher mein nächtlicher Ausflug.
Ich glaube, genau das war es, was er erwartet hatte. ‹Eine richtige Romanze›, sagte er freundlich, als ich geendet hatte. – ‹Und nun, Herr Doktor›, redete ich weiter, ‹seien Sie bitte auch mir gegenüber offen. Befindet sich bei Ihnen ein junges Mädchen mit dem Namen Jane Finn? Oder ist es jemals bei Ihnen gewesen?› – ‹Jane Finn?›, sagte er. ‹Nein.›
Nun, damit war die Sache erledigt. ‹Da kann man nichts machen›, erklärte ich schließlich. ‹Aber hören Sie, da wäre noch etwas anderes. Als ich auf diesem verdammten Ast schaukelte, glaubte ich einen alten Freund von mir zu erkennen, der sich mit einer Ihrer Schwestern unterhielt.› Ich nannte ganz bewusst keinen Namen, da sich Whittington hier unter Umständen unter einem ganz anderen Namen aufhielt, aber der Arzt antwortete sogleich: ‹Vielleicht Mr Whittington?› – ‹Ja, der ist es›, antwortete ich. ‹Was tut er denn hier? Erzählen Sie mir nur nicht, dass seine Nerven nicht in Ordnung wären!›
Doktor Hall lachte auf. ‹Nein. Er kam nur her, um mit einer meiner Schwestern zu sprechen, Schwester Edith, eine Nichte von ihm.› – ‹Ist er noch da?›, fragte ich. – ‹Nein, er ist gleich wieder in die Stadt zurückgefahren.› – ‹Wie schade!›, entfuhr es mir. ‹Aber vielleicht könnte ich mit seiner Nichte sprechen?›
Doch der Arzt schüttelte den Kopf. ‹Schwester Edith ist heute, ebenfalls mit einem Patienten abgereist.› – ‹Pech›, bemerkte ich. ‹Haben Sie vielleicht Whittingtons Adresse in der Stadt? Ich würde ihn gern aufsuchen, wenn ich zurückkomme.› – ‹Seine Adresse kenne ich nicht. Aber ich kann, wenn Ihnen etwas daran liegt, Schwester Edith schreiben und sie darum bitten.› Ich dankte ihm. ‹Sagen Sie aber nicht, wer sie wissen möchte. Es soll eine Überraschung werden.›
Das war ungefähr alles, was ich im Augenblick tun konnte. Whittingtons Nichte – falls sie das wirklich war – würde vielleicht nicht in eine solche Falle gehen – aber man konnte immerhin den Versuch machen. Danach setzte ich ein Telegramm an Beresford auf, um ihm mitzuteilen, wo ich war und dass ich mit einem verstauchten Fuß festläge. Ich bat ihn zu kommen. Aber ich hörte nichts von ihm. Mein Fuß war bald wieder einigermaßen in Ordnung. So konnte ich mich also heute von dem Doktor verabschieden und zurück in die Stadt fahren. Aber hören Sie, Miss Tuppence, Sie sehen so blass aus.»
«Da ist Tommy schuld», antwortete Tuppence. «Was kann ihm nur zugestoßen sein?»
«Kopf hoch! Es wird schon nicht so schlimm sein. Der Kerl, dem er folgte, wirkte wie ein Ausländer. Vielleicht sind sie ins Ausland gefahren…»
Tuppence schüttelte den Kopf. «Ohne Pass geht das nicht. Im Übrigen habe ich diesen Ausländer gestern gesehen. Er hat bei Mrs Vandemeyer gegessen.»
«Bei wem?»
«Ach, das habe ich ja ganz vergessen. Sie wissen ja noch gar nichts.»
«Schießen Sie los», sagte Hersheimer.
Daraufhin schilderte ihm Tuppence die Ereignisse der beiden letzten Tage. Hersheimer rief erstaunt und nicht ohne Bewunderung:
«Großartig! Sie als Dienstmädchen!» Er lachte. Dann fügte er ernst hinzu: «Aber hören Sie, Miss Tuppence, so lustig ist das gar nicht. Mut haben Sie wahrhaftig, aber mir wäre es lieber, Sie ließen die Finger davon. Mit diesen Burschen ist nicht zu spaßen.»
«Oh, ist mir doch gleich!», rief Tuppence. «Denken wir lieber darüber nach, was Tommy passiert sein kann. Ich habe Mr Carter bereits geschrieben», fügte sie hinzu und erzählte ihm kurz den Inhalt ihres Briefes.
Hersheimer nickte.
«Was können wir sonst noch tun?», fragte Tuppence.
«Ich halte es für das Beste, wenn wir die Spur von Boris aufnehmen. Sie sagten, er sei bei Mrs Vandemeyer zu Besuch gewesen. Besteht einige Aussicht, dass er wiederkommt?»
«Es könnte sein, aber ich weiß es nicht.»
«Am besten, ich kaufe mir einen Wagen, und zwar einen ganz feinen, verkleide mich als Chauffeur und warte so auf der Straße. Wenn Boris auftaucht, können Sie mir ein Zeichen geben, und ich folge ihm.»
«Ausgezeichnet, aber wer weiß, ob es nicht Wochen dauert, ehe er kommt.»
«Das Risiko müssen wir eingehen.» Er erhob sich.
«Wohin gehen Sie?»
«Den Wagen kaufen. Welche Marke mögen Sie am liebsten? Wir werden wohl noch einige Fahrten darin machen, bevor wir das alles hinter uns haben.»
«Mir gefällt ein Rolls-Royce am besten, aber…»
«Machen wir. Ich kauf einen.»
«Aber das geht doch gar nicht so schnell», rief Tuppence. «Manchmal müssen die Leute ewig warten, bis –»
«Das hat Hersheimer nicht nötig», versicherte er. «In einer halben Stunde bin ich mit dem Wagen da.»
Tuppence erhob sich. «Aber alles ist doch nur eine vage Hoffnung. Mir scheint, dass hier nur Mr Carter helfen kann. Übrigens habe ich vergessen, noch etwas anderes zu erzählen.»
Und sie schilderte ihm ihr Zusammentreffen mit Sir James Peel Edgerton. Hersheimer war sogleich interessiert.
«Was hat er Ihrer Ansicht nach gemeint?», fragte er.
«Ich glaube, dass er mir eine Warnung zukommen lassen wollte.»
«Und warum?»
«Ich weiß es nicht. Aber er sah so gütig aus und wirkte so überlegen… Ich würde ihm vertrauen. Ihm könnte ich ohne weiteres alles erzählen.»
Aber Hersheimer lehnte diese Möglichkeit scharf ab. «Hören Sie, wir wollen keinen Anwalt in diese Sache hineinziehen. Er könnte uns doch nicht helfen. Aber ich muss jetzt gehen. Bis nachher.»
Fünfunddreißig Minuten waren verstrichen, als Hersheimer zurückkam. Er ergriff Tuppence am Arm und führte sie zum Fenster. «Dort steht er.»
«Oh!», rief Tuppence verblüfft. «Wie haben Sie denn den bekommen?»
«Er wurde gerade mit seinem Fahrer von seinem Besitzer weggeschickt. Irgend so ein großes Tier.»
«Na und?»
«Ich ging zu ihm», erklärte Hersheimer, «und sagte ihm, dass meines Wissens ein solcher Wagen zwanzigtausend Dollar wert sei und ich fünfzigtausend Dollar dafür auf den Tisch legen würde.»
«Und weiter?», rief Tuppence überwältigt.
«Er hat ihn mir eben überlassen.»
12
Freitag und Samstag verstrichen ohne weiteres Ereignis. Tuppence hatte auf ihr Schreiben an Mr Carter eine kurze Antwort erhalten. Er habe sie auf das Risiko deutlich hingewiesen. Wenn Tommy etwas zugestoßen sei, so bedauere er dies zutiefst – er könne jedoch nichts unternehmen.
Das war nicht gerade ein Trost. Ohne Tommy machte ihr die ganze Sache keinen rechten Spaß mehr und zum ersten Mal begann Tuppence am Erfolg zu zweifeln.
Obwohl sie daran gewöhnt war, die Führung zu übernehmen, und sich auf ihre schnelle Entschlussfähigkeit und ihren Scharfsinn etwas einbildete, hatte sie sich in Wirklichkeit mehr auf Tommy verlassen, als es ihr bewusst geworden war. Er war in seinem Urteil und in seiner sachlichen Art so zuverlässig, das sich Tuppence ohne ihn wie ein Schiff ohne Ruder fühlte. Es war seltsam, dass Hersheimer, der zweifellos viel tüchtiger war als Tommy, ihr nicht das gleiche Gefühl der Sicherheit zu geben vermochte.