Es wurde ihr klar, dass ihre Mission mit Gefahren verbunden war, die sie bisher noch gar nicht recht erkannt hatte. Das Ganze hatte wie ein Spiel begonnen. Nun jedoch war der erste Schimmer des Abenteuerlichen dahin und die harte Wirklichkeit kam zum Vorschein. Nur auf Tommy kam es jetzt noch an. Immer wieder musste sich Tuppence im Verlauf des Tages die Tränen aus den Augen wischen. «Das ist ja idiotisch», sagte sie zu sich selbst. «Natürlich magst du ihn gern. Du hast ihn dein ganzes Leben lang gekannt. Aber deswegen braucht man nicht gleich rührselig zu werden.»
Inzwischen war von Boris nichts mehr zu sehen. Er kam nicht in die Wohnung und Hersheimer wartete umsonst mit seinem Wagen. Tuppence gab sich neuen Überlegungen hin. Obwohl sie Hersheimers Einwände als berechtigt anerkannte, hatte sie andererseits doch nicht den Gedanken aufgeben können, sich an Sir James Peel Edgerton zu wenden. Sie hatte sogar seine Adresse im Telefonbuch festgestellt. Hatte er wirklich damals beabsichtigt, sie zu warnen? Und wenn ja, warum? Zumindest wollte sie ihn um eine Erklärung bitten. Am Sonntagnachmittag hatte sie frei. Sie würde mit Hersheimer zusammentreffen und ihn von der Richtigkeit ihres Standpunktes überzeugen.
Es bedurfte tatsächlich ihrer ganzen Überredungskunst. Doch schließlich gab Hersheimer nach, und sie fuhren in seinem Wagen zur Carlton House Terrace.
Ein makellos gekleideter Diener öffnete ihnen die Tür. Tuppence war ein wenig nervös. Immerhin war es doch von ihr eine ziemliche Frechheit. Sie hatte beschlossen, nicht zu fragen, ob Sir James zu Hause sei, sondern einen etwas persönlicheren Ton anzuschlagen.
«Würden Sie Sir James fragen, ob ich ihn ein paar Minuten sprechen könnte? Ich habe eine wichtige Nachricht für ihn.»
Der Diener zog sich zurück, war jedoch bald wieder da.
Er führte sie in einen Raum im rückwärtigen Teil des Hauses, der als Bibliothek diente. Wohin man blickte, waren Bücher, und Tuppence bemerkte eine ganze Wand voller Werke über Verbrechen und Kriminologie. Ein altmodischer Kamin und ein paar tiefe Ledersessel vervollständigten das Bild. Am Fenster stand ein großer Schreibtisch. Dort saß der Herr des Hauses.
Bei ihrem Eintreten erhob er sich. «Sie haben eine Nachricht für mich? Ach, Sie sind es…!» Er hatte Tuppence erkannt. «Sie haben mir wohl etwas von Mrs Vandemeyer auszurichten?»
«Eigentlich nicht», erwiderte Tuppence. «Ich habe das nur gesagt, um eingelassen zu werden. Übrigens – darf ich Ihnen Mr Hersheimer vorstellen – Sir James Peel Edgerton.»
«Freut mich, Sie kennen zu lernen», sagte der Amerikaner.
«Wollen Sie sich nicht setzen?», fragte Sir James und zog zwei Stühle heran.
«Sir James», begann Tuppence und sprang mitten hinein, «Sie halten es wahrscheinlich für eine Unverschämtheit von mir, hier einfach so einzudringen. Denn natürlich hat die ganze Sache nicht das Geringste mit Ihnen zu tun. Sie sind eine sehr bedeutende Persönlichkeit, während man das von Tommy und mir nicht behaupten kann.» Sie hielt inne und holte Atem.
«Tommy?», fragte Sir James und sah den Amerikaner an.
«Nein, das ist Julius», erklärte Tuppence. «Ich bin ziemlich aufgeregt und daher erzähle ich wohl ein wenig wirr. Was ich wirklich wissen möchte, ist Folgendes: Wollten Sie mich vor Mrs Vandemeyer warnen?»
«Mein liebes Fräulein, soweit ich mich entsinne, habe ich Ihnen damals nichts anderes gesagt, als dass es heutzutage sehr viele gute Stellen gibt.»
«Ja. Aber es war doch ein Wink, nicht wahr?»
«Vielleicht», antwortete Sir James ernst.
«Nun würde ich gern wissen, warum. Sie mir den Wink gaben.»
Sir James lächelte über ihren Eifer.
«Nehmen wir an, Mrs Vandemeyer klagte gegen mich wegen Verleumdung und übler Nachrede?»
«Ich weiß, Anwälte sind immer sehr vorsichtig. Aber könnte man nicht sozusagen ein bisschen ‹ins Unreine› reden ohne sich näher festzulegen? Alles Weitere wird man ja dann sehen.»
«Gut, reden wir also ‹ins Unreine›. Hätte ich eine Schwester, die gezwungen wäre, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, würde ich sie nicht gern in Mrs Vandemeyers Diensten sehen. Es ist nicht der richtige Ort für ein junges Mädchen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.»
«Ich danke Ihnen vielmals. Aber ich bin wirklich nicht so unerfahren. Ich wusste genau, dass sie zu der gefährlichen Sorte gehört – deswegen bin ich ja überhaupt hingegangen.» Sie hielt inne, als sie eine gewisse Bestürzung im Gesicht des Anwalts bemerkte, und fuhr dann fort: «Ich glaube, es ist besser, ich erzähle Ihnen die ganze Geschichte, Sir James. Ich habe das Gefühl, dass Sie es ohnehin merken würden, wenn ich Ihnen nicht die volle Wahrheit sagte, und so ist es besser, Sie hören gleich alles von Anfang an. Was meinen Sie, Hersheimer?»
«Wenn Sie schon darüber reden, dann sollten Sie auch gleich alles auspacken», antwortete der Amerikaner, der bis dahin schweigend dabeigesessen hatte.
«Ja, erzählen Sie mir alles», sagte auch Sir James. «Wer ist also dieser Tommy?»
Ermutigt begann Tuppence ihren Bericht und der Anwalt lauschte ihr mit gespannter Aufmerksamkeit.
«Sehr interessant», bemerkte er, als sie geendet hatte. «Vieles von dem, was Sie mir da erzählt haben, war mir bereits bekannt. Ich habe in Bezug auf diese Jane Finn schon meine eigene Theorie entwickelt. Sie haben bisher ausgezeichnete Arbeit geleistet, es ist nur höchst bedauerlich, dass dieser – wie hat er sich Ihnen gegenüber genannt –, dieser Mr Carter zwei so junge Leute in eine solche Sache hineinschlittern lässt. Übrigens, wie ist eigentlich Mr Hersheimer dazugestoßen? Das haben Sie mir noch nicht erklärt.»
Hersheimer gab selber die Antwort.
«Ich bin Janes Vetter», erklärte er.
«So –?»
«Oh, Sir James», mischte sich nun Tuppence wieder ein, «was ist Ihrer Ansicht nach aus Tommy geworden?»
«Tja.» Der Anwalt erhob sich und begann langsam auf und ab zu gehen. «Als Sie kamen, stand ich gerade im Begriff, meine Sachen zu packen, um auf ein paar Tage nach Schottland zum Fischen zu fahren. Ich wollte den Nachtzug nehmen. Aber es gibt ja verschiedene Arten von Fischzügen. So bleibe ich lieber und sehe einmal zu, ob wir nicht die Spur dieses jungen Mannes aufnehmen können.»
«Ach!» Tuppence schlug begeistert die Hände zusammen.
«Wie gesagt – es ist von Carter nicht zu verantworten, dass er solche Kinder, wie Sie beide, an eine solche Aufgabe gesetzt hat. Seien Sie jetzt nicht beleidigt, Miss… wie ist doch Ihr Name?»
«Cowley. Prudence Cowley. Aber alle meine Freunde nennen mich Tuppence.»
«Also gut, dann nenne ich Sie Tuppence, da ich ja bestimmt zu Ihren Freunden zählen werde. Zurück zu Ihrem Tommy. Offen gesagt, die Sache sieht für ihn ziemlich übel aus. Kein Zweifel. Aber geben Sie die Hoffnung nicht auf.»
«Und Sie wollten uns wirklich helfen? Sehen Sie, Hersheimer! Er wollte mich nämlich nicht zu Ihnen gehen lassen», fügte sie zur Erklärung hinzu.
«Soso», sagte der Anwalt und ließ seinen scharfen Blick erneut auf Hersheimer ruhen. «Und warum nicht?»
«Ich fand, man könnte Sie mit einer so unwesentlichen Angelegenheit nicht belästigen.»
«Diese unwesentliche Angelegenheit, wie Sie sie nennen, ist aber mit einer sehr wesentlichen eng verbunden. Sie ist vielleicht noch wesentlicher, als Sie oder Miss Tuppence ahnen können. Wenn dieser junge Mann noch lebt, wird er uns sehr wichtige Informationen geben können. Deshalb müssen wir ihn finden.»
«Ja, aber wie?»
Sir James lächelte. «Und doch gibt es einen Menschen in Ihrer nächsten Umgebung, der mit größter Wahrscheinlichkeit weiß, wo er sich befindet.»
«Und wer wäre das?», fragte Tuppence verwundert.
«Mrs Vandemeyer.»
«Ja, aber sie würde es uns doch niemals sagen!»
«Richtig. Und genau dort beginnt meine Aufgabe. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass ich Mrs Vandemeyer dazu bringen kann, mir das zu erzählen.»