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Tuppence überlegte einen Augenblick. «Ich glaube, Mrs Vandemeyers kleiner Salon wäre am geeignetsten», sagte sie schließlich und ging voraus.

Sir James sah sich um. «Ja, das ist am besten. Und jetzt gehen Sie endlich zu Bett.»

Tuppence schüttelte energisch den Kopf. «Danke, Sir James, aber das könnte ich gar nicht. Ich würde die ganze Nacht von Mr Brown träumen.»

«Aber Sie müssen doch müde sein!»

«Nein, ich möchte wirklich lieber aufbleiben.»

Der Anwalt gab nach.

Einige Minuten später erschien auch Hersheimer wieder, nachdem er Albert beruhigt und ihn für seine Dienste großzügig entlohnt hatte. Auch ihm gelang es nicht, Tuppence zu bewegen ins Bett zu gehen, und so sagte er: «Auf jeden Fall müssen Sie etwas zu essen bekommen. Wo ist die Speisekammer?»

Tuppence führte ihn hin und einige Minuten später erschien er mit kaltem Fleisch und drei Tellern.

Nachdem sie alle kräftig zugelangt hatten, fühlte sich Tuppence wesentlich besser; ihre Angstvorstellungen, die sie eine halbe Stunde zuvor noch geplagt hatten, kamen ihr plötzlich lächerlich vor. Sie war auch überzeugt, dass die Bestechung Erfolg haben würde.

«Und nun erzählen Sie uns mal Ihre Abenteuer, Miss Tuppence», forderte Sir James sie auf.

Tuppence berichtete, was sich zugetragen hatte. Hin und wieder warf Hersheimer ein Wort der Bewunderung ein. Sir James schwieg, bis sie geendet hatte. Seine wenigen Worte der Anerkennung aber ließen Tuppence vor Stolz erröten.

«Aber da ist noch eins, was ich nicht ganz verstehe», warf Hersheimer ein. «Was hat sie eigentlich veranlasst, plötzlich das Weite suchen zu wollen?»

«Ich weiß es nicht», gab Tuppence zu.

Sir James strich sich nachdenklich über das Kinn. «Das Zimmer war in großer Unordnung. Es sieht so aus, als ob ihre Flucht keineswegs von langer Hand geplant war. Fast so, als hätte sie eine Warnung erhalten.»

«Wahrscheinlich von Mr Brown», rief Hersheimer spöttisch.

Der Anwalt betrachtete ihn eine Weile aufmerksam. «Warum nicht?», sagte er. «Vergessen Sie nicht, dass er Sie selber auch schon einmal hereingelegt hat.»

Hersheimer wurde rot vor Zorn. «Ich kann es noch immer nicht fassen, wenn ich daran denke, dass ich ihm Janes Fotografie ausgehändigt habe. Mein Gott, wenn ich den einmal erwische!»

«Diese Möglichkeit erscheint mir recht gering», erwiderte Sir James trocken.

«Ich fürchte, Sie haben Recht. Und im Übrigen bin ich ja auf der Jagd nach dem Original, da kann mir das Bild schließlich gleichgültig sein. Was glauben Sie, Sir James, wo sie sein könnte?»

«Dafür gibt es keinen Anhaltspunkt. Aber ich könnte mir sehr gut vorstellen, wo sie gewesen ist.»

«Wirklich? Wo?»

«Am Schauplatz Ihrer nächtlichen Abenteuer, im Privatsanatorium in Bournemouth.»

«Dort? Unmöglich. Ich habe doch gefragt.»

«Nein, mein Lieber, Sie haben gefragt, ob jemand mit dem Namen Jane Finn dort gewesen sei. Hatte man das Mädchen dort untergebracht, so doch höchstwahrscheinlich unter einem falschen Namen.»

«Daran habe ich nie gedacht.»

«Dabei lag es ziemlich auf der Hand.»

«Vielleicht gehört auch der Arzt zu diesem Ring», meinte Tuppence.

Hersheimer schüttelte den Kopf. «Das glaube ich nicht. Hall hat mir gleich von Anfang an gefallen.»

«Sagten Sie Hall?», fragte Sir James. «Das ist seltsam – wirklich sehr seltsam.»

«Wieso?», fragte Tuppence.

«Weil ich ihm heute Morgen begegnet bin. Ich kenne ihn seit Jahren, wenn auch flüchtig, und heute Morgen habe ich ihn zufällig auf der Straße getroffen. Er wohnt, wie er mir sagte, im Metropole.» Er wandte sich an Hersheimer. «Hatte er Ihnen nicht erzählt, dass er in die Stadt kommen wollte?»

Hersheimer schüttelte den Kopf.

«Seltsam», murmelte Sir James nochmals. «Sie haben heute Nachmittag seinen Namen nicht erwähnt, sonst hätte ich Ihnen vorgeschlagen, ihn wegen weiterer Informationen aufzusuchen. Ich hätte Ihnen meine Karte zur Einführung mitgegeben.»

«Ich bin ein Idiot», erklärte Hersheimer niedergeschlagen, was bei ihm ganz ungewöhnlich war. «Natürlich hätte ich an die Möglichkeit eines falschen Namens denken sollen.»

«Erstaunlich genug, dass Sie überhaupt noch denken konnten, nachdem Sie vom Baum gefallen waren!», rief Tuppence. «Jeder andere wäre tot gewesen.»

«Jetzt ist das wahrscheinlich sowieso nicht mehr wichtig», erklärte Hersheimer. «Wir haben Mrs Vandemeyer und mehr brauchen wir nicht.»

«Ja», antwortete Tuppence nicht sehr überzeugt.

Es wurde still zwischen ihnen. Nach und nach zog die Nacht sie in ihren Bann. Möbelstücke knackten, in den Vorhängen raschelte es geheimnisvoll. Plötzlich sprang Tuppence mit einem Schrei auf.

«Ich kann mir nicht helfen, aber ich weiß, dass Mr Brown hier in der Wohnung ist! Ich fühle seine Nähe geradezu.»

«Aber Tuppence, wie sollte er! Diese Tür geht auf die Diele hinaus. Niemand könnte zur Wohnungstür hereinkommen, ohne dass wir ihn sehen oder hören.»

«Ich kann es nicht erklären. Ich fühle, dass er hier ist!»

Sie sah Sir James hilfeflehend an, der ernst erwiderte. «Bei allem Respekt vor Ihren Gefühlen, Miss Tuppence – ich sehe wirklich nicht, wie es möglich sein sollte, dass jemand ohne unser Wissen diese Wohnung betritt.»

Tuppence war durch seine Worte ein wenig beruhigt. «Wenn man nachts so herumsitzt, wird man wohl ein bisschen nervös», sagte sie entschuldigend.

«Ja», sagte Sir James, «uns geht es so ähnlich wie Menschen, die eine Séance abhalten. Wenn wir ein Medium hier hätten, würden wir vielleicht großartige Erfolge erzielen.»

«Glauben Sie an Spiritismus?», fragte Tuppence.

Der Anwalt zuckte mit den Schultern. «Zweifellos ist etwas daran – obwohl die meisten Aussagen darüber einer strengen Prüfung nicht standzuhalten pflegen.»

Die Stunden schleppten sich langsam hin. Beim ersten schwachen Aufdämmern des neuen Tages zog Sir James die Vorhänge zurück. Mit der Wiederkehr des Lichtes erschienen ihnen die Ängste und fantastischen Gedanken der vergangenen Nacht absurd. Tuppence hatte nun ihre alte Zuversicht wiedergewonnen.

«Es wird ein herrlicher Tag», rief sie. «Und wir werden Tommy finden! Und Jane Finn!» Tuppence machte Tee und kehrte mit einem Tablett zurück, auf dem die Teekanne und vier Tassen standen.

«Für wen ist denn die vierte Tasse?», fragte Hersheimer.

«Natürlich für unsere Gefangene.»

«Dass wir jetzt hier ihren Tee trinken, erscheint einem nach den Vorgängen von gestern Abend einigermaßen merkwürdig», sagte Hersheimer nachdenklich.

«Ja», sagte Tuppence. «Aber ich bringe ihr eine Tasse Tee; vielleicht kommen Sie mit, für den Fall, dass sie mich anspringt oder so etwas!»

Sir James und Hersheimer begleiteten Tuppence bis zur Tür. «Wo ist der Schlüssel? Ach ja, ich habe ihn ja selber.» Sie steckte ihn ins Schloss und hielt inne. «Und wenn sie nun trotz allem entwichen wäre?»

«Völlig unmöglich», antwortete Hersheimer zuversichtlich.

Sir James sagte nichts.

Tuppence tat einen tiefen Atemzug und trat ein. Sie fühlte sich erleichtert, als sie Mrs Vandemeyer im Bett liegen sah. «Guten Morgen», sagte sie aufmunternd. «Ich bringe Ihnen eine Tasse Tee!»

Mrs Vandemeyer antwortete nicht. Tuppence stellte die Tasse auf den Nachttisch und trat zum Fenster, um die Jalousien hochzuziehen. Als sie sich umwandte, lag Mrs Vandemeyer noch immer regungslos da. Von einer jähen Befürchtung ergriffen, lief Tuppence zum Bett. Die Hand, die sie anhob, war kalt… Mrs Vandemeyer war ganz offenbar im Schlaf gestorben. Tuppence schrie auf.

«Wenn das nun nicht ein Mordspech ist», rief Hersheimer verzweifelt.