«Sie haben wohl Recht. Ich danke Ihnen, dass Sie versucht haben, uns zu helfen. Auf Wiedersehen.»
Hersheimer wandte sich zum Wagen. In Sir James’ kühle Augen trat ein flüchtiger Ausdruck des Mitleids.
«Seien Sie nicht traurig, Miss Tuppence. Denken Sie daran, dass auch im Urlaub nicht immer die ganze Zeit mit Vergnügungen ausgefüllt ist.»
Es lag in seinem Tonfall etwas, das Tuppence veranlasste, jäh zu ihm aufzublicken.
«Nein, mehr sage ich nicht. Denken Sie daran: Erzählen Sie niemals alles, was Sie wissen – nicht einmal dem Menschen, den Sie am besten kennen. Auf Wiedersehen.»
Er entfernte sich. Tuppence blickte ihm nach. Allmählich begann sie, Sir James’ Methoden zu begreifen. Schon einmal hatte er ihr, ebenso beiläufig, einen Fingerzeig gegeben. War auch dies einer?
Hersheimer unterbrach ihre Gedanken. «Wollen wir ein wenig im Park spazieren fahren?»
«Ja, warum nicht.»
Eine Weile fuhren sie schweigend unter den Bäumen dahin. Es war ein prächtiger Tag. Der Fahrtwind munterte Tuppence auf.
«Was glauben Sie – werde ich Jane je wiederfinden?» Hersheimers Stimme klang sehr mutlos. Tuppence sah ihn erstaunt an. «Ja, die Sache setzt mir sehr zu. Sir James war so ganz ohne Hoffnung… Ich mag ihn ja nicht besonders, irgendwie passen wir nicht zueinander, aber er ist wohl sehr tüchtig.»
«Er hat doch vorgeschlagen, der Schwester wegen eine Anzeige aufzugeben», erinnerte sie ihn.
«Ja. Aber es klang nicht zuversichtlich. Vielleicht ist es das Beste, nach Amerika zurückzureisen.»
«Aber nein! Wir müssen doch Tommy finden!»
«Den habe ich tatsächlich im Augenblick vergessen», erklärte Hersheimer zerknirscht. «Aber seit ich diese Reise angetreten habe, ist so viel Unwahrscheinliches geschehen. Man bewegt sich wie in einem Traum. Hören Sie, Miss Tuppence, ich hätte Sie gern etwas gefragt.»
«Und das wäre?»
«Sie und Beresford… Wie steht es da?»
«Ich verstehe Sie nicht», antwortete Tuppence kühl und fügte inkonsequent hinzu: «Und im Übrigen irren Sie sich!»
«Besteht keine… keine nähere Beziehung zwischen Ihnen?»
«Sehe ich aus wie ein Mädchen, das sich in alle Männer, denen es begegnet, immer gleich verliebt?»
«Das nicht. Aber Sie sehen aus wie eins, in das sich immer gleich die Männer verlieben.»
«Ach was!», erwiderte Tuppence ziemlich verblüfft.
«Nehmen wir an, wir finden Beresford nie und… Wie wäre es denn mit Heiraten?», bohrte Hersheimer weiter. «Haben Sie sich jemals mit der Frage befasst?»
«Natürlich habe ich die Absicht, eines Tages zu heiraten. Das heißt, wenn… wenn ich einen finde, der so reich ist, dass es sich wirklich lohnt.»
«Wie haben Sie sich denn das im Einzelnen vorgestellt?»
«Sie meinen, wie er aussehen soll?»
«Nein – ich meine das Vermögen, das Einkommen.»
«Ach, das habe ich mir nicht so genau überlegt.»
«Wie wäre es mit mir –?»
«Mit Ihnen?»
«Warum denn nicht?»
«O nein! Das könnte ich nicht!»
«Warum nicht?»
«Es wäre so ganz und gar nicht anständig gehandelt.»
«Das kann ich nicht einsehen. Ich nehme ganz einfach Ihre Herausforderung an. Das ist alles. Ich bewundere Sie grenzenlos, Miss Tuppence, mehr als jedes andere Mädchen. Nur ein Wort und wir fahren zu einem Juwelier und besorgen uns die Ringe.»
«Ich kann nicht», stieß Tuppence hervor.
«Wegen Beresford?»
«Nein, nein, nein!»
«Sie können doch unmöglich mehr Dollar erwarten, als ich habe.»
«Ach, darum geht es auch nicht», rief Tuppence und lachte nervös. «Ich… ich glaube, es geht nicht.»
«Ich wäre Ihnen dankbar, Sie überlegten es sich bis morgen.»
«Es hat keinen Zweck.»
«Trotzdem finde ich, wir sollten es offen belassen.»
«Also gut», antwortete Tuppence besänftigend.
Sie schwiegen beide, bis sie das Ritz erreichten.
Tuppence ging hinauf in ihr Zimmer. Nach dem Gespräch mit Hersheimer fühlte sie sich am Ende ihrer Kräfte. Er war so mit Energie geladen… Sie setzte sich vor ihren Spiegel und betrachtete sich einige Minuten lang. Da fiel ihr Blick auf ein kleines Foto von Tommy, das in einem armseligen Rahmen auf ihrem Toilettentisch stand. Einen Augenblick lang kämpfte sie um ihre Selbstbeherrschung, dann brach sie in Schluchzen aus.
«Oh, Tommy, Tommy», rief sie, «ich liebe dich – und ich werde dich nie Wiedersehen…»
Nach fünf Minuten richtete sich Tuppence wieder auf, schnäuzte sich und strich ihr Haar zurück.
«Erledigt», erklärte sie energisch. «Sehen wir den Tatsachen ins Gesicht. Ich scheine mich in einen dummen Jungen verliebt zu haben, dem ich sicher völlig gleichgültig bin.» Hier hielt sie inne. «Ich weiß wirklich nicht, was ich Hersheimer sagen soll; er wird darauf bestehen, dass ich ihm einen Grund nenne… Ich frage mich nur, ob er eigentlich in diesem Safe etwas gefunden hat.»
Tuppences Gedanken schlugen nun eine andere Richtung ein. Sie ließ nochmals die Ereignisse der letzten Nacht an sich vorüberziehen. Sir James’ rätselhafte Worte schienen alles in neue Zusammenhänge zu rücken. Plötzlich sprang sie auf – die Farbe wich aus ihrem Gesicht. Es war ungeheuerlich – und doch war damit alles erklärt…
Sie setzte sich und schrieb einige Zeilen, bei denen sie sich jedes einzelne Wort genau überlegte. Schließlich nickte sie zufrieden und steckte das Schreiben in einen Umschlag, den sie an Hersheimer adressierte. Sie ging den Gang entlang, bis zu seinem Wohnzimmer und klopfte an die Tür. Wie erwartet, war kein Mensch im Zimmer. Da legte sie den Brief auf den Tisch. Als sie zu ihrer eigenen Tür zurückkehrte, stand ein Page davor. «Ein Telegramm für Sie.»
Tuppence riss es auf. Es war von Tommy!
16
Aus einer Finsternis, die von jähen Blitzen durchzuckt war, fanden Tommys Sinne allmählich wieder ins Leben zurück. Mühsam öffnete er die Augen. Das war doch nicht sein Schlafzimmer im Ritz? Und was war mit seinem Kopf?
«Er kommt zu sich», bemerkte eine Stimme. Tommy erkannte sie sogleich als die des bärtigen Mannes mit deutschen Akzent und blieb regungslos liegen. Mühsam versuchte er, sich klar zu werden, was geschehen war. Offensichtlich hatte sich jemand an ihn herangeschlichen, während er an der Tür lauschte… Nun wussten sie, dass er ein Spion war… Zweifellos befand er sich in einer üblen Klemme. Niemand wusste, wo er war…
«Verdammt!», rief er und dieses Mal gelang es ihm, sich aufzurichten.
Sogleich setzte der Mann ihm ein Glas an die Lippen. Dazu sagte er: «Trinken!» Tommy gehorchte. Das Getränk war so stärk, dass es ihm fast den Atem raubte, aber sein Kopf wurde klar.
Er lag auf einer Couch in dem Zimmer, in dem die Versammlung stattgefunden hatte. Auf der einen Seite stand der Deutsche, auf der anderen der Hausmeister. Die standen in einiger Entfernung etwas abseits. Tommy jedoch vermisste ein Gesicht. Der Mann, den man als Nummer eins bezeichnet hatte, war nicht mehr da.
«Sie haben Glück, junger Freund, dass Ihr Schädel so dick ist. Der gute Conrad hat einen harten Schlag.» Der Mann nickte dem üblen Hausmeister zu, der grinste. «Haben Sie noch etwas zu sagen, bevor Sie erledigt werden?»
«Allerdings. Und zwar sehr viel!»
«Wollen Sie leugnen, dass Sie an der Tür lauschten?»
«Keineswegs. Ich möchte mich dafür entschuldigen – Ihre Unterhaltung war so interessant, dass ich meine Skrupel überwand.»
«Wie sind Sie hereingekommen?»
«Der gute Conrad hat mich eingelassen.»
Conrad brummte, aber es klang recht schwach. Als der Mann mit dem Bart sich ihm heftig zuwandte, erklärte er mürrisch: