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Die Tür wurde geöffnet. Einen Augenblick später trat ein Mädchen ein. Es trug ein Tablett, das es auf dem Tisch absetzte.

Im schwachen Licht der Gaslampe stellte Tommy fest, dass es das schönste Mädchen war, das er jemals gesehen hatte. Das Haar war von einer satten braunen Farbe. Das Gesicht glich, wie ihm schien, einer Heckenrose. Die Augen waren haselnussbraun, mit goldenem Schimmer.

«Sind Sie Jane Finn?», fragte er atemlos.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. «Mein Name ist Annette, Monsieur.» Sie sprach ein weiches, etwas gebrochenes Englisch.

«Ach!», sagte Tommy einigermaßen überrascht. «Francaise?»

«Oui, Monsieur. Monsieur parle Francais?»

«Nicht sehr fließend. Was ist das? Frühstück?»

Das Mädchen nickte. Tommy betrachtete das Tablett. Das Frühstück bestand aus etwas Brot, Margarine und einer Kanne Kaffee.

«Das Leben hier hält den Vergleich mit dem Ritz nicht ganz aus», bemerkte er seufzend. «Aber ich bin dankbar, überhaupt etwas zu bekommen.» Er zog einen Stuhl heran und das Mädchen wandte sich wieder zur Tür. «Warten Sie einen Augenblick», rief Tommy. «Annette, was tun Sie denn hier in diesem Haus?»

«Ich bin angestellt, Monsieur.»

«Ach so», antwortete Tommy. «Wissen Sie noch, was ich Sie vorhin gefragt habe? Haben Sie jemals diesen Namen gehört?»

«Ich habe schon jemand von Jane Finn reden hören.»

«Sie wissen nicht, wo sie ist?»

Annette schüttelte den Kopf.

«Sie lebt nicht hier in diesem Haus?»

«Aber nein, Monsieur. Ich muss jetzt gehen.»

Sie eilte hinaus. Der Schlüssel drehte sich im Schloss.

Ich frage mich, wer das ist, den sie mit «jemand» bezeichnet, überlegte Tommy, als er eine Scheibe Brot abschnitt. Wenn ich Glück habe, könnte mir das Mädchen helfen, hier herauszukommen. Es sieht nicht so aus, als gehörte es zur Bande.

Um ein Uhr erschien Annette wieder mit dem Tablett, von Conrad begleitet.

«Guten Morgen», sagte Tommy freundlich. «Von Seife scheinen Sie nicht viel zu halten.»

Conrad brummte missvergnügt.

«Schlagfertigkeit ist nicht gerade Ihre Stärke, nicht wahr? Nun ja, man kann nicht gleichzeitig schön und klug sein. Was haben wir denn zu essen? Gulasch – der Duft der Zwiebel ist unverkennbar.»

«Reden Sie nur», brummte der Mann. «Ihnen bleibt ja nicht mehr viel Zeit dazu.»

Diese Bemerkung klang nicht gerade sehr ermutigend, aber Tommy überhörte sie.

Um acht Uhr vernahm er das vertraute Geräusch des Schlüssels. Das Mädchen war allein.

«Schließen Sie bitte die Tür», sagte Tommy. «Ich möchte mit Ihnen sprechen.»

Sie tat es.

«Hören Sie, Annette, ich möchte, dass Sie mir helfen, hier herauszukommen.»

Sie schüttelte den Kopf. «Unmöglich! Unten im ersten Stock sind drei Männer.»

«Ach!» Tommy war auch für diese Information dankbar. «Aber Sie würden mir helfen, falls Sie es könnten?»

«Nein, Monsieur.»

«Und warum nicht?»

Das Mädchen zögerte. «Es sind meine eigenen Leute! Und Sie haben ihnen nachspioniert.»

«Es ist eine üble Bande, Annette. Wenn Sie mir helfen, befreie ich Sie von diesen Kerlen.»

Aber das Mädchen schüttelte den Kopf. «Das wage ich nicht, Monsieur. Ich habe Angst vor ihnen.»

«Würden Sie auch nichts tun, um einem anderen Mädchen zu helfen?», rief Tommy. «Sie ist etwa ebenso alt wie Sie. Wollen Sie sie wirklich nicht aus ihren Klauen befreien?»

«Sie meinen Jane Finn?»

«Ja.»

«Und nach ihr haben Sie hier gesucht? Ja?»

«Ja.»

Das Mädchen fuhr sich mit der Hand über die Stirn. «Jane Finn. Immer höre ich diesen Namen.»

Tommy trat erregt auf sie zu. «Sie müssen irgendetwas wissen!»

Aber das Mädchen wandte sich jäh ab.

«Ich weiß nichts – ich kenne nur den Namen.» Sie ging auf die Tür zu. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus. Tommy sah sie überrascht an. Sie hatte das Bild von Faust und Mephisto erblickt, das er am Abend zuvor gegen die Wand gelehnt hatte, um es gegebenenfalls als Waffe zu benützen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er einen Ausdruck des Entsetzens in ihren Augen. Doch ebenso rätselhaft wich er gleich darauf einem Blick der Erleichterung. Danach ging sie ohne jedes weitere Wort aus dem Zimmer. Tommy war ihr Verhalten unerklärlich. Hatte sie sich eingebildet, dass er die Absicht hätte, sie damit anzugreifen? Wohl kaum. Er hängte das Bild nachdenklich wieder an die Wand.

Drei weitere Tage verstrichen in zermürbendem Nichtstun. Tommy spürte, wie alles an seinen Nerven zerrte. Er sah niemanden außer Conrad und Annette und das Mädchen redete kaum ein Wort. Eine Art dunklen Argwohns schwelte in ihren Augen. Tommy hatte das Gefühl, allmählich verrückt zu werden. Von Conrad erfuhr er nur, dass sie auf den Befehl Mr Browns warteten.

Der Abend des dritten Tages brachte ein raues Erwachen. Es war kaum sieben Uhr, als er laute Schritte draußen auf dem Gang vernahm. Einen Augenblick später wurde die Tür aufgestoßen. Conrad trat ein. In seiner Begleitung befand sich die üble Nummer vierzehn. Bei ihrem Anblick sank Tommy der Mut.

«Guten Abend, Chef», rief der Mann mit einem höhnischen Grinsen. «Hast du die Stricke, Kumpel?»

Schweigend holte Conrad einen dünnen Strick hervor. Einen Augenblick später fesselte Nummer vierzehn Tommy, während Conrad ihn festhielt.

«Hast wohl schon gedacht, du hättest uns eins ausgewischt? Mit dem, was du weißt und was du nicht weißt? Alles Schwindel!»

Offenbar hatte der allmächtige Mr Brown ihn durchschaut. Plötzlich jedoch kam Tommy ein Gedanke. «Aber wozu die Stricke? Warum schneidet mir dieser freundliche Herr nicht gleich die Kehle durch?»

«Unsinn», erklärte Nummer vierzehn unerwartet. «Hältst uns wohl für solche Anfänger? Wir haben den Wagen für morgen Früh bestellt, bis dahin wollen wir nichts mehr riskieren.»

Die beiden Männer verschwanden und die Tür fiel ins Schloss. Tommy blieb seinen Gedanken überlassen. Sie waren keineswegs erfreulich.

Es mochte etwa eine Stunde verstrichen sein, als er hörte, wie der Schlüssel leise im Schloss umgedreht wurde. Es war Annette. Tommys Herz schlug ein wenig schneller.

Plötzlich vernahm er Conrads Stimme: «Komm raus, Annette. Er will heute Abend kein Essen haben.»

«Oui, oui, je sais bien. Aber ich muss das andere Tablett holen. Wir brauchen das Geschirr.»

«Dann beeil dich», brummte Conrad.

Ohne Tommy anzusehen, trat Annette an den Tisch und ergriff das Tablett. Sie hob eine Hand und drehte das Licht aus. «Verdammt noch mal», Conrad war in die Tür getreten, «warum machst du das?»

«Ich drehe es immer aus. Soll ich es wieder anzünden, Monsieur Conrad?»

«Nein, komm jetzt raus.»

«Le beau petit monsieur», rief Annette und blieb in der Dunkelheit am Bett stehen. «Er ist wie ein zusammengeschnürtes Huhn!» Tommy fühlte zu seinem Erstaunen ihre Hand leicht über seine Fesseln streichen und etwas Kaltes wurde ihm in die Hand gedrückt.

Die Tür schloss sich hinter ihnen. Tommy hörte Conrad sagen: «Schließ ab und gib mir den Schlüssel.»

Die Schritte erstarben. Tommy lag wie erstarrt vor Verwunderung da. Der Gegenstand, den Annette ihm in die Hand gedrückt hatte, war ein kleines Taschenmesser. Sie hatte es vermieden, ihn anzusehen, und daraus schloss er, dass das Zimmer beobachtet wurde. Auch der Umstand, dass sie das Licht abgedreht hatte, ließ darauf schließen. Irgendwo in der Wand musste sich ein Guckloch befinden. Nun dachte er auch daran, dass sie sich ihm gegenüber stets sehr zurückhaltend benommen hatte. Hatte er irgendetwas gesagt, wodurch er sich hätte verraten können? Kaum.

Vorsichtig versuchte er, mit der Schneide auf dem Strick an seinen Händen hin und her zu fahren. Es war eine mühselige Angelegenheit. Kaum waren seine Hände frei, war alles andere nur noch ein Kinderspiel. Fünf Minuten später richtete er sich mit einiger Mühe auf; denn seine Glieder waren noch verkrampft. Er dachte nach. Conrad hatte den Schlüssel an sich genommen, so dass er von Annette kaum noch Hilfe erwarten konnte. Der einzige Ausgang aus diesem Zimmer war die Tür und so musste er warten, bis die beiden Männer kamen, um ihn zu holen. Er tastete sich bis zu dem Bild und nahm es wieder vom Haken. Jetzt blieb ihm nichts anderes mehr zu tun als zu warten.