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Langsam verstrich die Nacht. Tommy durchlebte eine Ewigkeit, aber schließlich hörte er die Schritte. Aufrecht stand er da, holte tief Atem und hielt das Bild fest.

Die Tür wurde geöffnet. Ein schwaches Licht fiel von außen ein. Conrad ging sogleich zur Gaslampe, um sie anzuzünden. Tommy bedauerte, dass er es war, der als erster eintrat. Es wäre ihm ein Vergnügen gewesen, mit Conrad zuerst abzurechnen. Nummer vierzehn folgte. Als er über die Schwelle trat, ließ Tommy das Bild auf seinen Kopf niedersausen. Nummer vierzehn stürzte unter einem gewaltigen Krachen und dem Klirren splitternden Glases zu Boden. Sogleich war Tommy hinausgesprungen und hatte die Tür hinter sich zugezogen. Der Schlüssel steckte. Er drehte ihn um und zog ihn in dem Augenblick heraus, als Conrad von innen mit einem Schwall von Schimpfworten gegen die Tür rannte.

Tommy zögerte. Er hörte jemanden auf dem unteren Gang. Dann erklang die Stimme des Bärtigen von unten herauf. «Was ist los, Conrad?»

Tommy fühlte eine Hand in der seinen. Neben ihm stand Annette. Sie deutete auf eine wacklige Stiege, die zu irgendwelchen Speicherräumen hinaufführte. Einen Augenblick später standen sie in einer staubigen Dachstube. Das Mädchen legte den Finger auf die Lippen und lauschte.

Das Hämmern und Schlagen gegen die Tür donnerte durchs Haus. Der Bärtige und noch ein anderer versuchten die Tür einzudrücken. Annette erklärte flüsternd: «Sie glauben, dass Sie noch drin sind. Sie können nicht verstehen, was Conrad sagt. Die Tür ist zu dick.»

«Ich dachte, man könnte hören, was im Zimmer vorgeht?»

«Es gibt ein Guckloch vom anderen Zimmer aus. Das war klug, dass Sie das erraten haben. Daran werden sie aber nicht denken – denn jetzt wollen sie ja nichts als ins Zimmer hinein.»

«Ja, aber hören Sie…»

«Überlassen Sie alles mir.» Zu seiner Verwunderung sah Tommy, dass sie lange Schnüre an einen Pfosten und an einen Krug band. «Haben Sie den Schlüssel zur Tür?»

«Ja.»

«Geben Sie ihn mir!» Er reichte ihn ihr. «Ich gehe jetzt hinunter. Glauben Sie, dass Sie sich hinter der Stiege hinablassen können, damit man Sie nicht sieht?»

Tommy nickte.

«Es steht ein großer Schrank tief im Schatten auf dem Treppenabsatz. Treten Sie hinter ihn. Nehmen Sie das Ende der Schnur in Ihre Hand. Wenn ich die anderen herausgelassen habe, ziehen Sie.»

Bevor er Zeit fand, sie noch irgendetwas zu fragen, war sie leichtfüßig die Stiege hinabgeeilt und stürzte laut schreiend unter die anderen: «Mein Gott! Was ist denn los?»

Fluchend wandte sich der Bärtige ihr zu. «Mach, dass du wegkommst! Geh in dein Zimmer!»

Vorsichtig ließ sich Tommy inzwischen hinter der Stiege hinab. Hinter dem Schrank kauerte er sich hin.

«Ach!» Annette schien über etwas zu stolpern. Sie beugte sich nieder. «Mein Gott! Da ist ja der Schlüssel!»

Der Bärtige entriss ihn ihr und schloss die Tür auf. Schimpfend kam Conrad herausgestolpert. «Wo ist er? Habt ihr ihn?»

«Wir haben niemanden gesehen», erwiderte der Bärtige. Dann erbleichte er. «Wen meinst du denn?»

«Er ist entkommen!»

«Unmöglich. Er hätte an uns vorbei gemusst.»

In diesem Augenblick zog Tommy an der Schnur. In der Dachstube oben zerschellte der Krug. Die Männer drängten die schwankende Stiege hinauf.

Wie ein Blitz sprang Tommy aus seinem Versteck und stürzte die Treppe hinunter. Unten in der Diele war niemand.

Plötzlich hörte er oben einen Schrei und einen Ausruf des Bärtigen und dann Annettes klare hohe Stimme: «Er ist entkommen. Und wie schnell.»

Tommy stand noch immer wie angewurzelt da. War das für ihn eine Aufforderung zu gehen?

Dann drangen noch lauter die Worte zu ihm: «Es ist ein schreckliches Haus. Ich will zu Marguerite zurück. Zu Marguerite, zu Marguerite.»

Tommy war bis zur Treppe zurückgelaufen. Wollte sie, dass er ging und sie zurückließ? Aber warum? Dann sank ihm der Mut. Conrad kam die Treppe herabgestürzt.

Tommy stoppte ihn durch eine rechte Gerade, sprang zur Haustür und schlug sie hinter sich zu. Der Platz lag verödet. Vor dem Haus stand der Lieferwagen eines Bäckers. Der Fahrer versuchte, Tommy den Weg abzuschneiden. Wieder schoss Tommys Rechte vor und der Fahrer ging zu Boden.

Tommy machte, dass er davonkam. Es war höchste Zeit. Die Eingangstür wurde aufgerissen und es folgte ein Kugelregen. Er hatte Glück, keine Kugel traf. Dann war er um die nächste Ecke.

Lange saß Tommy in einem türkischen Bad, um wieder er selbst zu werden. Als er ans Tageslicht trat, war er fähig, neue Pläne zu schmieden.

Zunächst einmal musste er ordentlich essen. Er trat in ein ABC-Lokal und bestellte Eier mit Speck und Kaffee. Während er aß, las er die Morgenzeitung. Plötzlich durchfuhr es ihn. Da war ein Artikel über Kramenin, der als der «geheimnisvolle Mann hinter dem Bolschewismus», eingetroffen sei. In der Mitte der Seite war sein Bild.

«Das ist also Nummer eins», sagte Tommy. «Kein Zweifel.» Er bezahlte sein Frühstück und begab sich nach Whitehall. Dort sandte er eine Nachricht mit seinem Namen nach oben, es sei dringend. Einige Minuten später stand er dem Mann gegenüber, der dort nicht unter dem Namen «Carter» bekannt war. Seine Stirn war gerunzelt.

«Hören Sie, es geht nicht, dass Sie herkommen und nach mir fragen. Ich dachte, das hätte ich Ihnen deutlich klar gemacht.»

«Gewiss, Sir. Ich halte aber diese Angelegenheit für so wichtig, dass keine Zeit zu verlieren ist.»

So kurz und gedrängt wie nur möglich schilderte er ihm seine Erlebnisse während der letzten Tage.

Als er etwa bis zur Mitte seines Berichtes gekommen war, unterbrach ihn Mr Carter und gab einige geheimnisvolle Anweisungen. Er nickte energisch, als Tommy geendet hatte.

«Ganz richtig. Hier ist jeder Augenblick von Bedeutung. Ich fürchte, dass wir ohnehin zu spät kommen. Dennoch könnten sie etwas hinterlassen haben, was uns als Hinweis dienen kann. Sie sagen, Sie hätten in Nummer eins Kramenin erkannt? Wir brauchen dringend etwas gegen ihn. Wie steht es mit den anderen? Sie sagen, zwei Gesichter wären Ihnen bekannt gewesen? Und einer sei ein Arbeiter? Sehen Sie sich diese Bilder an, ob Sie sie darauf erkennen.»

Kurz darauf hielt Tommy ein Bild hoch. Mr Carter verriet einige Überraschung. «Westway? Schau an! Wir hatten einen Verdacht, waren aber nicht sicher. Was den anderen anlangt, glaube ich, eine Ahnung zu haben.» Er reichte Tommy noch ein Bild und lächelte bei dem Ausruf des anderen. «Ich habe also Recht. Ein Ire. Nach außen hin ein Verfechter des Unionsgedankens. Natürlich alles Tarnung. Auch das vermuteten wir, hatten aber keine Beweise. Ja, das haben Sie ausgezeichnet gemacht, junger Mann. Sie sagen, der neunundzwanzigste sei das Datum? Na gut, damit bleibt uns noch etwas Zeit – wenn auch nicht sehr viel…»

«Aber…» Tommy zögerte.

Mr Carter erriet seine Gedanken. «Wenn der Vertragsentwurf auftauchen sollte, sieht es übel aus. Ja, bitte? Der Wagen? Kommen Sie, Beresford, jetzt sehen wir uns mal das Haus an.»

Zwei Polizisten standen vor dem Haus in Soho Wache. Ein Inspektor berichtete Mr Carter mit leiser Stimme. Der wandte sich an Tommy. «Die Vögel sind ausgeflogen – wie zu erwarten war. Nun, sehen wir einmal nach.»

Tommy kamen seine Erlebnisse wie ein Traum vor. Alles war noch so, wie er es gesehen hatte. Die Gefängniskammer mit den seltsamen Bildern, der zerbrochene Krug in der Dachstube und der Versammlungsraum mit dem langen Tisch. Nirgends waren Papiere zu finden. Von Annette fehlte jede Spur.