«Was Sie mir von diesem Mädchen erzählten, erscheint mir höchst rätselhaft», sagte Mr Carter. «Sie meinen, dass sie aus freien Stücken zurückging?»
«Ich kann nicht glauben, dass sie wirklich eine von ihnen ist, Sir, sie… sie schien mir anders zu sein.»
«Sah wohl gut aus?», meinte Mr Carter mit einem Lächeln.
Tommy gestand Annettes Schönheit verlegen ein.
«Sind Sie eigentlich bereits mit Miss Tuppence in Verbindung getreten?», fragte Mr Carter. «Sie hat mich Ihretwegen mit Briefen bombardiert.»
«Tuppence? Ist sie zur Polizei gegangen?»
Mr Carter schüttelte den Kopf.
«Dann verstehe ich nicht, wieso sie mich durchschaut haben…»
17
Tommy war dabei, einen besonders delikaten Bissen zum Munde zu führen, als er Hersheimer entdeckte, der gerade eintrat. Tommy winkte ihm fröhlich mit der Speisekarte zu.
Als Hersheimer Tommy erblickte, sah er höchst verblüfft aus. Er kam auf Tommy zu und schüttelte seine Hand mit großer Begeisterung.
«Na, so was!», rief er. «Wir hatten Sie fast schon abgeschrieben. Noch ein paar Tage und wir hätten für Sie ein feierliches Requiem abgehalten.»
«Sie dachten, ich sei tot? Glaubte das Tuppence auch?»
«Ja, das glaubte sie.»
«Wo ist sie eigentlich? Am Empfang sagte man mir, sie sei gerade weggefahren.»
«Wahrscheinlich macht sie Besorgungen. Ich habe sie vor etwa einer Stunde hier vorm Ritz abgesetzt. Aber sagen Sie, was haben Sie die ganze Zeit über angestellt?»
«Wollen Sie mit mir essen?», fragte Tommy. «Es wird eine lange Geschichte.»
Hersheimer zog einen Stuhl heran und winkte einem Kellner, dem er seine Wünsche herunterrasselte. Dann wandte er sich Tommy zu. «Schießen Sie los! Sie haben wohl einige Abenteuer hinter sich.»
«Ein paar», erwiderte Tommy und stürzte sich in seinen Bericht.
Hersheimer lauschte ihm wie gebannt. Er aß nur die Hälfte von dem, was ihm vorgesetzt wurde. Schließlich stieß er einen tiefen Seufzer aus.
«Eins zu null für Sie. Klingt wie ein Groschenroman.»
«Und wie steht es hier?», fragte Tommy und streckte die Hand nach einem Pfirsich aus.
«Na ja, wir hatten ja auch einige Abenteuer zu bestehen.»
Nun war er an der Reihe. Er begann mit seiner erfolglosen Erkundung in Bournemouth und endete mit den sensationellen Ereignissen der letzten Nacht.
«Aber wer hat sie denn umgebracht?», fragte Tommy.
«Der Arzt hat sich eingeredet, sie selber», antwortete Hersheimer ohne jeden weiteren Kommentar.
«Und Sir James? Was glaubte er?»
«Als großes Gestirn am Juristenhimmel ist er selbstverständlich verschlossen wie eine Auster.» Dann ging Hersheimer im Einzelnen auf die Ereignisse des Morgens ein.
«Das Gedächtnis verloren, sagen Sie?», fragte Tommy. «Deshalb haben die Burschen so seltsam reagiert! Na, das war ja ein ganz hübscher Schnitzer.»
«Sie haben keine Anhaltspunkte, wo Jane ist?»
Tommy schüttelte den Kopf. «Leider nicht.»
Es folgte ein kurzes Schweigen, nach dem Tommy wieder auf Mrs Vandemeyers Tod zu sprechen kam. «Es besteht kein Zweifel darüber, dass es das Schlafmittel war?»
«Belassen wir es dabei. Wir wollen uns nicht noch mit einer Obduktion und dergleichen befassen. Aber ich glaube, Tuppence und ich und sogar Sir James haben alle den gleichen Verdacht.»
«Mr Brown?», meinte Tommy.
«Aber sicher.»
«Mr Brown hat doch keine Flügel. Wie soll er denn hineingekommen sein und wieder hinaus?»
«Wie wäre es mit einer Art Fernhypnose oder wie man das nennt? Gibt es hypnotische Einflüsse, die einen Menschen wie Mrs Vandemeyer zwingen konnten, Selbstmord zu begehen?»
Tommy sah ihn verblüfft an. «Welch eine Idee, Hersheimer! Aber damit kann ich nichts anfangen. Ich glaube, die jungen Detektive müssen sich wieder an die Arbeit machen. Wenn wir nur Tuppence erreichen könnten! Das Ritz würde eine Aufsehen erregende Wiedersehensszene erleben.»
Als sie beim Portier nachfragten, erfuhren sie, dass Tuppence noch nicht zurückgekehrt sei.
«Trotzdem werde ich mich einmal oben umsehen», sagte Hersheimer. «Vielleicht sitzt sie im Wohnzimmer.» Er entfernte sich.
Plötzlich tauchte ein Page vor Tommy auf. «Die junge Dame ist mit dem Zug abgereist, Sir», murmelte er verlegen.
«Wie bitte?» Tommy fuhr herum.
«Das Taxi, Sir! Ich habe gehört, dass sie zum Charing-Cross-Bahnhof wollte.» Tommys Augen weiteten sich vor Verwunderung. Kühner geworden, fuhr der Junge fort: «Ich habe mir gleich gedacht, dass sie verreisen würde, als sie um das Kursbuch bat.»
«Das Kursbuch? Wann hat sie denn das haben wollen?»
«Als ich ihr das Telegramm brachte, Sir.»
«Wann war das?»
«Etwa gegen halb eins, Sir.»
«Erzähl mir genau, was vor sich ging!»
«Jawohl, Sir. Ich bringe das Kursbuch rauf und sie sagt, ich soll warten, und sieht etwas nach. Dann sieht sie auf die Uhr und ruft: ‹Schnell, ein Taxi!› und setzt sich den Hut auf und schon ist sie unten. Na, und dann nichts wie rein ins Taxi.»
Der Junge hielt inne. In diesem Augenblick trat Hersheimer zu ihnen. Er hielt einen geöffneten Brief in der Hand.
«Hören Sie, Hersheimer!» Tommy wandte sich ihm zu. «Tuppence hat sich selbstständig gemacht und irgendeine Spur aufgenommen.» Der Page verschwand.
«Ist doch unmöglich!»
«Sie ist in einem Taxi zum Charing-Cross gefahren, Hals über Kopf, nachdem sie ein Telegramm bekommen hatte.» Tommys Blick fiel auf den Brief in Hersheimers Hand. «Hat sie Ihnen eine Nachricht dagelassen?»
Er streckte seine Hand nach dem Brief aus, aber Hersheimer steckte ihn in die Tasche. Er schien ein wenig betreten.
«Das hat nichts damit zu tun. Es handelt sich um etwas anderes.»
«Ach so?» Tommy sah ein wenig verwundert aus.
«Hören Sie», sagte Hersheimer unvermittelt, «ich sage Ihnen wohl besser alles. Ich habe Miss Tuppence heute Früh gebeten, mich zu heiraten.»
Tommy fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen.
«Ich habe ihr, bevor ich den Antrag machte, gesagt, dass ich nicht die Absicht hätte, zwischen Sie zu treten.»
«Tuppence und ich», erwiderte Tommy, «sind seit Jahren gute Freunde. Nichts weiter.» Er zündete sich eine Zigarette an, aber seine Hand zitterte dabei. «Tuppence hat immer gesagt, dass sie eigentlich einen Mann sucht, der…» Er unterbrach sich jäh und errötete.
«Ach, es sind wohl die Dollar, die Sie meinen. Miss Tuppence hat mir gleich reinen Wein eingeschenkt. Wir werden sicher sehr gut miteinander auskommen.»
Tommy sagte nichts. Tuppence und Hersheimer! Ja, warum nicht? Hatte sie nicht ganz offen ihre Absicht kundgetan, eine Geldheirat zu machen? Er war von einem bitteren Zorn erfüllt. Ein anständiges Mädchen würde niemals nur um des Geldes willen heiraten. Widerwärtig…
Hersheimers Stimme unterbrach seine Gedanken. «Ja, wir müssten eigentlich gut miteinander auskommen. Ich habe gehört, dass ein Mädchen einen das erste Mal stets abweist – das ist wohl hier Tradition.»
«Abweist? Sagten Sie: abweist?»
«Sie hat ohne jede Begründung ‹Nein› gesagt. Aber sie wird sich’s schon noch überlegen.»
Tommy fragte ungeniert. «Was hat sie geschrieben?»
Hersheimer reichte ihm den Brief. Es war Tuppences vertraute Schulmädchenschrift:
Es ist immer besser, etwas schwarz auf weiß, zu haben. Ich kann mich ganz einfach nicht mit Heiratsplänen befassen, solange Tommy nicht gefunden ist. Verschieben wir es also bis dahin.
Stets Ihre Tuppence
Tommy reichte ihm mit leuchtenden Augen das Schreiben zurück. Seine Gefühle schlugen nun ins Gegenteil um. Kein Mädchen auf der ganzen Welt ließ sich mit Tuppence vergleichen. Wenn er sie wiedersähe… Und damit war er mit seinen Gedanken wieder am Anfang angelangt.