«Es kann gar nicht so gierig wirken, wie ich mich fühle. Aber vielleicht hast du Recht. Ich lese es dir noch einmal vor: ‹Zwei junge Abenteurer suchen Beschäftigung. Bereit zu allem, gleich wo. Gute Bezahlung Voraussetzung. Unvernünftige Angebote werden berücksichtigt.› Was würdest du davon halten, wenn du es liest?»
«Ich würde es für einen schlechten Witz halten – oder denken, ein Verrückter habe es geschrieben.»
«Es ist nur halb so verrückt wie das, was ich heute Früh las. Es begann mit ‹Petunie› und war unterzeichnet mit ‹Der liebe Junge›.» Sie riss das Blatt aus dem Notizbuch.
«Bitte. Für die Times meine ich. ‹Antwort erbeten unter Nummer Soundso.› Wird ungefähr fünf Shilling kosten. Hier hast du meinen Anteil.»
«Willst du wirklich, dass ich die Anzeige aufgebe? Na gut. In jedem Fall ist’s ein Spaß.»
Sie lachten einander etwas unsicher an. Tuppence erhob sich. «Ich muss mich in meine palastartige Zimmerflucht zurückziehen.»
«Ja, für mich wäre es wohl an der Zeit, mal ins Ritz hinüberzugehen», stimmte Tommy zu und grinste. «Wo treffen wir uns wieder? Und wann?»
«Morgen um zwölf Uhr. An der U-Bahn-Station Piccadilly. Wäre dir das recht?»
«Ich bin Herr meiner Zeit», erwiderte Mr Beresford hoheitsvoll.
«Also bis morgen.»
«Auf Wiedersehen, alte Nuss!»
Die beiden jungen Leute entfernten sich in entgegengesetzten Richtungen. Aus Gründen der Sparsamkeit nahm Tuppence keinen Bus.
Sie hatte den Park von St. James schon zur Hälfte durchquert, als sie die Stimme eines Mannes, der hinter ihr ging, zusammenfahren ließ.
«Verzeihung», sagte er, «könnte ich Sie einen Augenblick sprechen?»
2
Tuppence wandte sich heftig um, aber die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, blieben ungesagt, denn die Erscheinung des Mannes entsprach nicht ihrem ersten Verdacht. So zögerte sie.
Als hätte er ihre Gedanken erraten, sagte er schnelclass="underline"
«Ich kann Ihnen versichern, dass mir jede Unehrerbietigkeit fern liegt.»
Obwohl Tuppence ihn instinktiv nicht mochte und ihm auch nicht traute, sprach sie ihn in Gedanken von dem Motiv, das sie ihm noch soeben unterstellt hatte, frei. Sie betrachtete ihn aufmerksam. Er war groß, glatt rasiert und hatte einen schweren Unterkiefer. Seine Augen waren klein und listig und wichen ihrem Blick aus.
«Was wollen Sie?», fragte sie.
Der Mann lächelte. «Ich habe zufällig Teile Ihres Gesprächs mit dem jungen Herrn mit angehört.»
«Und –?»
«Ich dachte, ich könnte Ihnen von Nutzen sein.»
«Sie sind mir hierher gefolgt?»
«Ich habe mir die Freiheit erlaubt.»
«Und in welcher Weise glauben Sie, mir von Nutzen sein zu können?»
Der Mann nahm eine Karte aus seiner Tasche und überreichte sie ihr mit einer Verbeugung.
Tuppence nahm sie und las sie misstrauisch. Zuerst den Namen: «Edward Whittington.» Unter dem Namen standen die Worte: «Estnische Glaswaren-Gesellschaft» und die Adresse eines Büros in der Stadt. Wieder sprach Mr Whittington:
«Wenn Sie mich morgen um elf in meinem Büro aufsuchen wollen, werde ich Ihnen meinen Vorschlag unterbreiten.»
«Um elf Uhr?», fragte Tuppence unsicher.
«Um elf.»
«Gut. Ich komme.»
Mit einer eleganten Bewegung zog er den Hut und ging davon. Tuppence blickte ihm eine Weile nach.
«Das Abenteuer hat begonnen», sagte sie zu sich selbst. «Ich möchte nur wissen, was er von mir erwartet. Mein lieber Mr Whittington, Sie haben etwas an sich, das mir keineswegs gefällt. Andererseits habe ich vor Ihnen nicht die geringste Angst. Und wie ich schon immer gesagt habe, die kleine Tuppence passt schon auf sich auf. Bestimmt.»
Sie warf den Kopf zurück und ging dann rasch weiter. Plötzlich fiel ihr etwas ein, sie bog von ihrem Weg ab und suchte ein Postamt auf. Dort überlegte sie ein paar Augenblicke, während sie ein Telegrammformular unschlüssig in den Händen hielt. Der Gedanke aber, fünf Shilling vielleicht umsonst auszugeben, trieb sie zum Handeln. Sie holte Tommys Bleistift hervor, den sie eingesteckt hatte, und schrieb rasch: «Anzeige stoppen. Erklärung morgen.» Sie setzte die Adresse von Tommys Club ein. Übrigens musste Tommy diesen Club wohl oder übel in einem Monat verlassen, falls nicht ein gütiges Geschick es ihm erlaubte, seine Mitgliedsbeiträge zu bezahlen. «Es könnte ihn noch erreichen», murmelte sie. «Jedenfalls lohnt es den Versuch.»
Kurz vor elf gelangte Tuppence zu dem Häuserblock, in dem sich die Büros der «Estnischen Glaswaren-Gesellschaft», befanden. Sie lagen im obersten Stock. Es führte ein Aufzug hinauf, doch Tuppence zog es vor zu gehen.
Ein wenig außer Atem stand sie schließlich vor einer Tür. Quer über die Scheibe war zu lesen: Estnische Glaswaren-Gesellschaft.
Tuppence klopfte an. Eine Stimme antwortete, sie drehte den Griff herum und trat in ein ziemlich kleines, schmutziges Büro. Ein Mann mittleren Alters erhob sich von einem hohen Stuhl vor einem Pult in der Nähe des Fensters und kam mit fragendem Blick auf sie zu.
«Ich habe mit Mr Whittington eine Verabredung», erklärte Tuppence.
«Kommen Sie bitte mit.» Er ging auf eine Tür zu, auf der Privat stand, klopfte, öffnete und trat zur Seite, um sie hineingehen zu lassen.
Mr Whittington saß an einem großen Schreibtisch, auf dem sich Papiere häuften. Tuppence sah ihr erstes Urteil bestätigt. Mit Mr Whittington stimmte etwas nicht… Diese Verbindung geleckter Wohlhabenheit und unsteter Augen machte auf sie einen seltsam unangenehmen Eindruck.
Er nickte. «Sie sind also gekommen. Setzen Sie sich bitte.»
Tuppence setzte sich ihm gegenüber. Sie wirkte an diesem Morgen besonders klein und ehrbar. Still saß sie da, während Mr Whittington in seinen Papieren etwas suchte. Schließlich schob er sie zur Seite.
«Nun wollen wir mal über das Geschäftliche sprechen, mein liebes Fräulein.» Sein großflächiges Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. «Sie suchen Arbeit? Was würden Sie dazu sagen: Hundert Pfund und alle Ausgaben bezahlt?»
Tuppence betrachtete ihn aufmerksam. «Und was für eine Arbeit wäre das?»
«Eine Formsache – eine angenehme Reise, das wäre alles.»
«Wohin?»
«Paris.»
«Ach!», sagte Tuppence nachdenklich. Bei sich selber dachte sie: Wenn Vater das hörte, bekäme er bestimmt einen Anfall. Aber ich kann Mr Whittington nun einmal nicht in der Rolle des fröhlichen Verführers sehen.
«Nun?», fuhr Mr Whittington fort. «Könnte es etwas Angenehmeres geben? Die Uhr ein paar Jahre zurückstellen – nur ein paar, daran zweifle ich nicht – und in eines dieser reizenden pensionnats de jeunes filles einzutreten, von denen es in Paris ja genug gibt.»
Tuppence unterbrach ihn. «Ein Pensionat –?»
«Richtig. Bei Madame Colombier, in der Avenue de Neuilly.»
Tuppence kannte diesen Namen gut, es gab nichts Vornehmeres. Mehrere ihrer amerikanischen Freundinnen waren dort gewesen. Nun aber erschien ihr alles noch rätselhafter.
«Ich soll zu Madame Colombier gehen? Wie lange denn?»
«Kommt ganz darauf an. Vielleicht drei Monate.»
«Und die Bedingungen?»
«Keine. Selbstverständlich würden Sie als mein Mündel gelten und dürften keinerlei Verbindungen mit Ihren Freunden haben. Ich müsste Sie für diese Zeit zu absolutem Stillschweigen verpflichten. Übrigens, Sie sind doch Engländerin? Oder nicht?»
«Ja.»
«Aber Sie sprechen mit einem leichten amerikanischen Akzent.»
«Ich hatte im Lazarett eine gute Freundin, sie war Amerikanerin. Ich habe es wohl von ihr angenommen. Ich kann es mir schon wieder abgewöhnen.»
«Im Gegenteil. Es wäre sogar einfacher, wenn Sie als Amerikanerin gelten. Ja, ich halte es für besser…»