«Ich habe allmählich das Gefühl, dass wir einen großen Fehler begangen haben. Wir haben Zeit vergeudet und sind keineswegs weitergekommen.»
«Ganz Ihrer Meinung. Hören wir auf.»
«Und was wollen Sie machen?»
«Was wir vor einer Woche schon hätten tun sollen. Ich übergebe die ganze Sache der Polizei.»
«Sie haben Recht. Ich wünschte auch, wir wären gleich hingegangen.»
«Besser spät als nie. Scotland Yard wird wissen, was zu tun ist. Auf die Dauer ist der Fachmann dem Amateur eben doch überlegen. Kommen Sie mit?»
Tommy schüttelte den Kopf. «Wozu? Einer genügt. Ich kann ebenso gut hier bleiben und noch ein wenig länger herumsuchen.»
«Also leben Sie wohl. Ich bin bald zurück. Ich werde Scotland Yard bitten, die besten Köpfe auszusuchen.»
Die Ereignisse aber sollten nicht nach Hersheimers Plänen verlaufen. Später am Tag erhielt Tommy ein Telegramm:
KOMMEN SIE NACH MANCHESTER MIDLAND HOTEL. NACHRICHT. HERSHEIMER.
Am Abend des gleichen Tages stieg Tommy um sieben Uhr dreißig aus einem langsamen Bummelzug. Am Bahnsteig erwartete ihn Hersheimer.
«Ich habe mir schon gedacht, dass Sie mit diesem Zug kommen.»
«Was ist los? Ist Tuppence gefunden?»
«Nein. Aber Folgendes habe ich in London vorgefunden. Es war gerade eingetroffen.»
Tommys Augen weiteten sich, als er las.
JANE FINN GEFUNDEN. SOFORT NACH MANCHESTER KOMMEN, MIDLAND HOTEL. EDGERTON.
Hersheimer nahm das Telegramm wieder an sich. «Seltsam», sagte er nachdenklich. «Ich dachte, dieser Anwalt hätte die Sache aufgegeben!»
18
«Mein Zug ist vor einer halben Stunde eingetroffen», erklärte Hersheimer, als er mit Tommy den Bahnhof verließ. «Ich hatte, bevor ich aus London abreiste, damit gerechnet, dass Sie mit diesem Zug kommen würden, und Sir James entsprechend telegrafiert. Er hat Zimmer für uns bestellt und wird um acht Uhr mit uns essen.»
«Sie hatten wirklich angenommen, dass er sich für den Fall nicht mehr interessiert?»
«Nach dem, was er sagte, musste man das annehmen. Aber er wollte sich wohl nur nicht festlegen.»
«Vielleicht», meinte Tommy nachdenklich.
Pünktlich um acht Uhr erschien Sir James. Hersheimer stellte Tommy vor. Sir James drückte ihm herzlich die Hand.
«Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr Beresford. Ich habe von Miss Tuppence schon viel über Sie gehört.»
Hersheimer überfiel Sir James mit einem Schwall neugieriger Fragen.
Sir James strich sich das Kinn und lächelte. Schließlich sagte er: «Nun, sie ist jedenfalls gefunden. Und das ist die Hauptsache, nicht wahr?»
«Gewiss. Aber wie sind Sie ihr auf die Spur gekommen? Miss Tuppence und ich glaubten, Sie wollten die Sache ganz aufgeben.»
«Ach! Das haben Sie also geglaubt? Was Sie nicht sagen!»
«Aber wo ist sie denn?», fragte Hersheimer. «Ich dachte, Sie brächten sie mit.»
«Das war nicht möglich», erwiderte Sir James ernst.
«Wieso?»
«Weil die junge Dame einen Verkehrsunfall hatte und am Kopf leicht verletzt wurde. Man hat sie in ein Krankenhaus gebracht und als sie dort wieder zu sich kam, hat sie als ihren Namen Jane Finn angegeben. Als ich das erfuhr, habe ich sie in das Haus eines Arztes bringen lassen – ein Freund von mir und Ihnen telegrafiert. Sie hat dann wieder das Bewusstsein verloren und seitdem nichts mehr gesagt.»
«Aber sie ist doch nicht ernsthaft verletzt?»
«Eine leichte Quetschung und ein paar Fleischwunden; vom ärztlichen Standpunkt aus tatsächlich nur ganz leichte Verletzungen, die im Allgemeinen kaum einen solchen Zustand hervorrufen können. Dieser Zustand ist also wahrscheinlich dem seelischen Schock zuzuschreiben, den sie erlitt, als sie plötzlich ihr Gedächtnis wiedergewann.»
«Ja, hat sie denn ihr Gedächtnis wieder?»
Sir James trommelte ungeduldig auf den Tisch. «Zweifellos, Mr Hersheimer, da sie ja fähig war, ihren wirklichen Namen anzugeben.»
«Und Sie waren zufällig dort?», rief Tommy. «Das alles kommt mir wie ein Märchen vor.»
Aber Sir James war viel zu vorsichtig, um sich darüber auszulassen. «Ein Zusammentreffen von Zufällen berührt einen stets sonderbar.»
Nichtsdestoweniger war Tommy nun sicher, dass Sir James’ Anwesenheit in Manchester kein Zufall war. Er hatte keineswegs den Fall aufgegeben, wie Hersheimer angenommen hatte, sondern mit Hilfe seiner Verbindungen das vermisste Mädchen aufgespürt. Das Einzige, was Tommy merkwürdig vorkam, war, dass er alles so geheim hielt. Aber er sagte sich, dass dies eine Eigenart vieler Juristen sei.
«Nach dem Essen», verkündete Hersheimer, «gehe ich gleich Jane aufsuchen.»
«Das dürfte unmöglich sein, fürchte ich», antwortete Sir James. «Es ist kaum anzunehmen, dass man im Haus eines Arztes Besucher zu dieser Zeit einlässt. Ich würde vorschlagen, morgen Früh gegen zehn Uhr hinzugehen.»
Hersheimer errötete. Sir James hatte etwas an sich, was ihn stets zum Widerspruch reizte. Die beiden waren in vieler Hinsicht Gegensätze. «Trotzdem werde ich heute Abend noch hingehen und sehen, ob es mir nicht gelingt, Ihre blödsinnigen Bestimmungen zu durchbrechen.»
«Völlig nutzlos, Mr Hersheimer.»
Die Worte kamen wie aus einer Pistole geschossen und Tommy blickte überrascht auf. Hersheimer war nervös und erregt. Die Hand, mit der er sein Glas hob, zitterte ein wenig, aber seine Augen begegneten Sir James voller Trotz. Einen Augenblick lang schien die latente Feindseligkeit zwischen den beiden offen ausbrechen zu wollen, aber schließlich senkte Hersheimer doch den Blick und gab nach. «Also gut. Einstweilen spielen ja wohl Sie hier den Chef.»
«Danke. Sagen wir also, gegen zehn Uhr.» Völlig beherrscht wandte er sich dann Tommy zu. «Ich muss schon sagen, Mr Beresford, dass es für mich eine große Überraschung war, Sie hier zu sehen. Ihre Freunde waren in großer Sorge, weil man seit einigen Tagen nichts mehr von Ihnen gehört hatte und Miss Tuppence glaubte Sie wären in Schwierigkeiten geraten.»
«Das war ich auch, Sir!» Tommy grinste in der Erinnerung an seine Erlebnisse.
Durch Fragen von Sir James ermuntert, gab er einen kurzen Bericht über seine Abenteuer. Der Anwalt betrachtete ihn mit erneutem Interesse und als Tommy geendet hatte, sagte er ernst: «Sie haben großen Scharfsinn bewiesen und Ihre Rolle glänzend gespielt.»
Tommy errötete. «Ohne das Mädchen wäre ich nicht weggekommen, Sir.»
«Gewiss.» Sir James lächelte ein wenig. «Sie hatten das Glück, dass sie, wie soll ich sagen, eine Schwäche für Sie hatte.» Tommy wollte schon widersprechen, aber Sir James fuhr fort. «Es ist doch wohl kein Zweifel daran, dass sie zur Bande gehört?»
«Das fürchte ich auch, Sir.»
Sir James nickte bedächtig. «Was hatte sie gesagt? Man solle sie wieder zu Marguerite schaffen?»
«Ja, Sir. Ich glaube, sie meinte Mrs Vandemeyer.»
«Die hat immer nur mit Rita Vandemeyer unterschrieben. Alle ihre Freunde nannten sie Rita. Aber ich nehme an, dass das Mädchen sie aus besonderem Grund bei ihrem eigentlichen Namen nannte. Und in dem Augenblick, in dem sie nach ihr rief, war Mrs Vandemeyer entweder schon tot oder lag bereits im Sterben. Seltsam! Ein paar Punkte erscheinen mir noch immer recht dunkel – zum Beispiel der plötzliche Wechsel ihrer Haltung Ihnen gegenüber. Übrigens – das Haus ist doch wohl durchsucht worden?»
«Ja, Sir, aber sie waren schon alle weg.»
«Natürlich», sagte Sir James trocken.
«Und nicht eine Spur, nicht ein Anhaltspunkt.»
«Meinen Sie…» Der Anwalt trommelte nachdenklich auf den Tisch.
Bei seinem Tonfall blickte Tommy auf. Hatte er etwas entdeckt, wofür sie blind gewesen waren? Impulsiv rief er: «Wären Sie nur da gewesen, Sir, und mit uns durchs Haus gegangen!»