«Ja, wäre ich nur da gewesen!» Eine Weile saß er schweigend da. «Und was haben Sie seitdem unternommen?»
Einen Augenblick lang sah Tommy ihn verwundert an. Dann dämmerte ihm, dass der Anwalt von seinen Sorgen um Tuppence nichts wissen konnte.
«Tuppence ist verschwunden», sagte Hersheimer.
«Wann?»
«Vor einer Woche.»
«Wie?»
Sir James schoss seine Fragen heraus. Tommy und Hersheimer berichteten von ihrer vergeblichen Suche.
Sir James ging sofort auf den Kern der Sache los. «Ein Telegramm mit Ihrem Namen? Unsere Gegner wussten natürlich schon einiges von Ihnen beiden. Sie waren aber nicht sicher, wie viel Sie in diesem Haus erfahren hatten. Die Entführung von Miss Tuppence ist der Gegenzug, um Ihrer Flucht entgegenzuwirken. Wenn nötig, können sie Ihnen den Mund versiegeln durch die Drohung, dass…»
Tommy nickte. «Das denke ich auch, Sir.»
Sir James betrachtete ihn aufmerksam. «Seltsam ist aber, dass man im Anfang Ihrer Gefangenschaft offenbar nichts von Ihnen wusste. Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht doch irgendwie verraten haben?»
Tommy schüttelte den Kopf.
Hersheimer sagte: «Ich nehme an, dass ihnen jemand etwas hinterbracht hat – und das nicht vor Sonntagnachmittag.»
«Ja, aber wer?»
«Natürlich der allmächtige und allwissende Mr Brown.»
Es lag leiser Spott in seiner Stimme und Sir James streifte ihn mit einem scharfen Blick.
«Sie glauben wohl nicht an ihn, Mr Hersheimer?»
«Nein, Sir», entgegnete der junge Amerikaner mit Nachdruck. «Jedenfalls nicht an das Individuum Brown. Meiner Ansicht nach ist das nichts weiter als ein Deckname. Der eigentliche Kopf ist sicher Kramenin. Das ist eine undurchsichtige Figur, die ihre Finger in allen möglichen Affären hat, in den verschiedensten Ländern – zumindest wäre ihm das zuzutrauen.»
«Da bin ich ganz anderer Meinung», widersprach ihm Sir James schroff. «Mr Brown gibt es.» Er wandte sich an Tommy. «Haben Sie zufällig darauf geachtet, wo das Telegramm aufgegeben wurde?»
«Nein, Sir, das habe ich allerdings nicht.»
«Haben Sie es bei sich?»
«Ich habe es oben, Sir. In meinem Gepäck.»
«Ich würde es mir gern einmal ansehen. Es eilt nicht. Eine Woche haben wir ja bereits verloren.» Tommy ließ den Kopf hängen. «Ein Tag mehr oder weniger macht da auch nichts mehr. Wir befassen uns zunächst einmal mit Jane Finn. Danach machen wir uns an die Arbeit, Miss Tuppence zu suchen. Ich glaube nicht, dass sie sich in unmittelbarer Gefahr befindet. Das heißt, solange die anderen nicht wissen, dass wir Jane Finn in unseren Händen haben und sie ihr Gedächtnis wiedergewonnen hat. Wir müssen das um jeden Preis geheim halten. Ist das klar?»
Um zehn Uhr am nächsten Vormittag fanden sich die beiden jungen Leute an dem verabredeten Ort ein. Sir James gesellte sich zu ihnen. Er war der Einzige, der ruhig wirkte. Er stellte sie dem Arzt vor. «Mr Hersheimer – Mr Beresford – Dr. Roylance. Wie geht es unserer Patientin?»
«Zufrieden stellend. Sie hat offensichtlich keinen Begriff davon, wie viel Zeit verstrichen ist. Heute Morgen hat sie gefragt, wie viele von der Lusitania gerettet wurden. Ob es schon in der Zeitung gestanden hätte und dergleichen. Aber damit musste man rechnen. Irgendetwas scheint sie noch zu bedrücken.»
«Ich glaube, dass wir sie von ihrer Angst befreien können. Dürfen wir hinaufgehen?»
«Natürlich.»
Tommys Herz schlug schneller, als sie dem Arzt nach oben folgten. Jane Finn! Endlich! Wenn nur Tuppence jetzt da wäre, um das triumphierende Ende ihres gemeinsamen Abenteuers mitzuerleben!
Der Arzt öffnete eine Tür und sie traten ein. Auf dem weißen Bett, den Kopf verbunden, lag ein Mädchen. Irgendwie erschien Tommy das alles völlig unwirklich.
Das Mädchen sah mit verwunderten Augen von einem zum anderen. Als erster sprach Sir James.
«Miss Finn», erklärte er, «das ist Ihr Vetter, Mr Julius P. Hersheimer.»
Eine leichte Röte stieg in das Gesicht des Mädchens, als Hersheimer ihre Hand ergriff. «Wie geht es denn, Jane, meine kleine Kusine?», fragte er. Tommy hörte das Zittern aus seiner Stimme heraus.
«Bist du wirklich Onkel Hirams Sohn?», fragte sie erstaunt.
Ihre Stimme mit dem leichten Akzent des Westens war eigenartig faszinierend. Tommy kam sie einen Augenblick bekannt vor, doch er schob diesen Eindruck als völlig unmöglich beiseite.
«Aber sicher!»
«Wir haben immer in der Zeitung von Onkel Hiram gelesen», fuhr das Mädchen mit der leisen, sanften Stimme fort. «Aber ich hätte nie geglaubt, dir eines Tages zu begegnen. Mutter bildete sich immer ein, dass Onkel Hiram ihr nie verzeihen würde.»
«Mein Alter war auch so», gab Hersheimer zu. «Aber die junge Generation ist doch ein wenig anders. Ich jedenfalls habe nichts für solche Familienfehden übrig. Als der Krieg vorbei war, versuchte ich sofort, dich aufzufinden.»
Ein Schatten fuhr über das Gesicht des Mädchens. «Man hat mir so Entsetzliches erzählt: Ich hätte mein Gedächtnis verloren und es gäbe Jahre, von denen ich vielleicht niemals mehr etwas wissen werde – verlorene Jahre…»
«Und dir selber ist das gar nicht bewusst geworden?»
«Aber nein. Ich habe den Eindruck, als sei kaum Zeit vergangen, seit wir in die Rettungsboote getrieben wurden. Ich sehe alles noch ganz deutlich vor mir.» Schaudernd schloss sie die Augen.
Hersheimer blickte zu Sir James hinüber; der nickte. «Mach dir keine Sorgen mehr. Es lohnt sich nicht. Und nun hör einmal zu, Jane, wir würden gern etwas von dir erfahren. Da war doch ein Mann an Bord, der wichtige Papiere bei sich führte. In politischen Kreisen dieses Landes ist man der Ansicht, er hätte sie dir gegeben. Stimmt das?»
Das Mädchen zögerte und sein Blick streifte die beiden anderen. Hersheimer verstand.
«Mr Beresford ist von der britischen Regierung damit beauftragt, diese Papiere herzuschaffen. Sir James Peel Edgerton ist Mitglied des Parlaments und könnte, wenn er wollte, im Kabinett sitzen. Ihm verdanken wir es, dass wir dich gefunden haben. Du kannst uns also die ganze Geschichte erzählen. Hat Danvers dir die Papiere gegeben?»
«Ja. Er sagte, sie wären bei mir besser aufgehoben, da man Frauen und Kinder zuerst retten würde.»
«Genau, was wir uns gedacht haben», sagte Sir James.
«Sie seien sehr wichtig – sie könnten für die Alliierten von größter Bedeutung sein. Aber wenn der Krieg beendet ist, dann ist das alles heute doch unwesentlich.»
«Ich fürchte, dass sich die Geschichte wiederholt, Jane. Erst herrschte dieser Papiere wegen große Aufregung, dann schlief alles ein, und nun beginnt die ganze Sache wieder von vorn – allerdings aus völlig anderen Gründen. Könntest du uns die Papiere übergeben?»
«Ich habe sie ja gar nicht.»
«Du hast sie nicht?», fragte Hersheimer gedehnt.
«Nein – ich habe sie versteckt.»
«Versteckt?»
«Ja. Ich wurde so unruhig. Man schien mich zu beobachten. Und da bekam ich Angst.» Sie hob die Hand zum Kopf. «Es ist das Letzte, dessen ich mich entsinne, bevor ich im Krankenhaus aufwachte…»
«Weiter», sagte Sir James mit seiner ruhigen, durchdringenden Stimme. «Woran erinnern Sie sich noch?»
«Es war im Holyhead. Das war die Reiseroute – ich erinnere mich nicht, warum…»
«Das ist ja auch unwichtig. Weiter.»
«In der allgemeinen Verwirrung stahl ich mich davon. Niemand sah mich. Ich nahm einen Wagen. Ich sagte dem Fahrer, er solle ein Stück außerhalb der Stadt fahren. Ich passte auf, als wir auf die Landstraße hinauskamen. Es folgte uns kein anderer Wagen. Ich sah einen Weg von der Straße abzweigen. Da sagte ich dem Mann, er solle auf mich warten.» Sie hielt inne und fuhr dann fort. «Der Weg führte zu einer Steilküste und von dort lief ein Pfad zwischen großen gelben Stechginsterbüschen zum Meer hinab. Ich sah mich nach allen Seiten um. Niemand war in der Nähe. Genau in der Höhe meines Kopfes befand sich ein Loch im Felsen. Es war ziemlich klein – ich konnte gerade mit meiner Hand hineinlangen, aber die Höhlung war sehr tief. Ich nahm das in Öltuch eingeschlagene Päckchen, das ich um den Hals hängen hatte, und schob es hinein. Dann brach ich einen Ginsterzweig ab und stopfte das Loch damit zu; so konnte man nicht erkennen, dass dort überhaupt ein Spalt war. Dann merkte ich mir genau die Stelle. Es lag dort ein seltsamer Felsblock im Weg – sah aus wie ein sitzender Hund. Ich fuhr wieder zur Stadt. Ich erwischte gerade noch den Zug. Ich schämte mich ein wenig darüber, dass ich mir vielleicht alles Mögliche einbildete, aber dann sah ich, wie der Mann, der mir gegenübersaß, einer Frau neben mir zuzwinkerte und wieder hatte ich Angst und war froh, die Papiere in Sicherheit zu wissen. Dann sagte die Frau, ich hätte etwas fallen lassen; als ich mich niederbeugte, um danach zu suchen, erhielt ich einen Schlag – da.» Sie berührte mit der Hand den Hinterkopf. «An mehr erinnere ich mich nicht, bis ich im Krankenhaus erwachte.»