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Tommy schwieg. Immerhin schien ihm der kleine Willi die Gefährdung durch Mr Brown ein wenig abzuschwächen.

Der Pfad lief nun quer zur Steilküste und parallel zum Strand. Plötzlich blieb Hersheimer stehen, so dass Tommy gegen ihn rannte. «Sehen Sie mal!»

Tommy blickte über seine Schulter. Halb auf dem Pfad lag ein großer Felsblock, der zweifellos einem sitzenden Hund ähnelte. «Na ja. Ist doch genau das, was wir erwarteten.»

Hersheimer schüttelte den Kopf. «Natürlich haben wir es erwartet – aber trotzdem verblüfft es einen doch.»

Tommy, dessen Ruhe ein bisschen erzwungen war, wurde ungeduldig. «Weiter. Wo ist denn nun das Loch?»

Sie musterten die Felswand eingehend und Tommy meinte: «Nach all den Jahren wird der Ginsterzweig nicht mehr da sein.»

«Da haben Sie wohl Recht.»

Plötzlich deutete Tommy auf einen Punkt: «Was ist das für ein Spalt?»

«Das ist er – bestimmt.»

Tommy betrachtete die Felswand und wurde plötzlich sehr aufgeregt. «Das ist unmöglich!», rief er. «Fünf Jahre! Man stelle sich das vor! Jungen, die nach Vogelnestern suchen, Ausflügler, Tausende von Menschen, die hier vorbeikommen… Es kann gar nicht da sein! Es widerspricht jeder vernünftigen Überlegung.»

«Jetzt sind Sie endlich ein bisschen durcheinander», erklärte Hersheimer. «So, und nun sehen wir mal!» Er drang mit seiner Hand in den Spalt ein und verzog dabei ein wenig das Gesicht. «Ist schon verdammt eng. Janes Hand muss ein paar Nummern kleiner sein als meine. Ich fühle gar nichts – nein, was ist denn das? Mein Gott!» Und strahlend hielt er ein kleines ausgeblichenes Päckchen in die Höhe. «Da haben wir’s ja! In Öltuch. Halten Sie mal, bis ich mein Taschenmesser gefunden habe.»

Das Unglaubliche war Tatsache geworden: Tommy hielt das kostbare Päckchen in den Händen.

«Ist doch seltsam», murmelte er leise, «man sollte meinen, die Nähte wären bereits verrottet. Aber sie sehen aus wie neu.»

Vorsichtig schnitten sie die Naht auf und rissen die Ölseide auseinander. Drinnen lag ein kleiner, zusammengefalteter Bogen Papier. Der Bogen war leer. Verblüfft sahen sie einander an.

«Was bedeutet denn nun das wieder?», stieß Hersheimer hervor. «Wollte Danvers nur eine falsche Spur legen?»

Tommy schüttelte den Kopf. Diese Erklärung gefiel ihm nicht. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. «Ich hab’s! Geheimschrift! Unsichtbar!»

«Meinen Sie?»

«Es lohnt jedenfalls einen Versuch. Probiern wir’s mal mit Erhitzung – das ist ja wohl die übliche Methode. Suchen wir ein paar Stückchen Holz. Wir machen ein Feuer.»

Kurze Zeit darauf züngelte ein kleines Feuer aus Zweigen und trockenem Laub auf. Tommy hielt den Bogen darüber. Das Papier kräuselte sich ein wenig durch die Hitze. Plötzlich packte Hersheimer Tommys Arm und deutete auf Stellen auf dem Bogen, an denen in einer leicht braunen Tönung Buchstaben sichtbar wurden.

«Teufel! Wir haben es!»

Tommy hielt das Papier noch eine Weile über das Feuer. Einen Augenblick später stieß er einen Schrei aus. Quer über das Papier stand in deutlichen Druckbuchstaben geschrieben:

MIT DEN BESTEN EMPFEHLUNGEN VON MR BROWN. 

20

Sie waren wie vor den Kopf geschlagen. Tommy nahm die Niederlage mit Fassung hin. Aber nicht Hersheimer. «Wie in aller Welt hat er denn das angestellt? Das möchte ich wissen!»

Tommy schüttelte den Kopf: «Daher sahen die Nähte auch so neu aus. Wir hätten es uns denken können…»

«Ach, zum Teufel mit den Nähten! Wie hat er es überhaupt erfahren? Meinen Sie, es könnte in Janes Zimmer ein Mikrofon eingebaut sein? So etwas muss es doch sein!»

Aber Tommy war zu nüchtern, um sich mit einer solchen Erklärung anfreunden zu können. «Niemand hat im Voraus wissen können, dass sie in dieses Haus kommen würde – noch weniger gerade in dieses Zimmer.»

«Das stimmt. Dann gehört vielleicht eine der Schwestern zur Bande und hat an der Tür gelauscht. Wäre das nicht eine Möglichkeit?»

«Es ist ja nun auch egal», sagte Tommy entmutigt. «Er kann es schon vor Monaten erfahren und sich die Papiere geholt haben… Aber nein! Man hätte sie sogleich veröffentlicht.»

«Bestimmt! Irgendjemand ist uns heute um etwa eine Stunde zuvorgekommen. Aber wie?»

«Wenn nur Edgerton hier wäre», sagte Tommy.

«Warum? Es war schon passiert, ehe wir herkamen.»

«Ja –» Tommy zögerte. Er vermochte sein Gefühl nicht recht zu erklären – diese völlig unlogische Vorstellung, dass Edgertons Anwesenheit die Situation verändert hätte. So sagte er nur: «Jedenfalls haben wir verloren. Jetzt bleibt mir nur noch eins, so bald wie möglich nach London zurückzukehren. Ich muss Mr Carter warnen. Es handelt sich jetzt vielleicht nur noch um Stunden, bis die Bombe platzt.»

Es war eine unangenehme Aufgabe, aber Tommy hatte nicht die Absicht sich ihr zu entziehen. So nahm er den Mitternachtszug nach London. Hersheimer sollte die Nacht über in Holyhead bleiben.

Eine halbe Stunde nach seiner Ankunft stand Tommy bleich und übermüdet vor seinem Auftraggeber.

«Ich habe Ihnen Schlechtes zu berichten, Sir!»

«Sie wollen damit sagen, dass der Vertrag…»

«Sich in Mr Browns Händen befindet, Sir.»

Carter verzog keine Miene. «Na ja», sagte er nach einer Weile, «ich bin immerhin froh, dass ich es jetzt mit Sicherheit weiß.»

Tommy schwieg. Er sah sehr niedergeschlagen aus.

«Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen, mein Freund! Sie haben Ihr Bestes getan!»

«Ich danke Ihnen, Sir.»

«Ich mache mir selber sehr große Vorwürfe», fuhr Carter fort, «seit ich die andere Nachricht erhalten habe.»

Sein Tonfall ließ Tommy aufhorchen. «Ist denn noch etwas, Sir?»

«Ich fürchte, ja!» Mr Carter streckte seine Hand nach einem Bogen Papier aus, der auf seinem Schreibtisch lag.

«Tuppence –?»

«Lesen Sie selber.»

Die mit der Maschine geschriebenen Zeilen tanzten vor Tommys Augen. Die Beschreibung eines grünen, kleinen Hutes, eines Mantels mit einem Taschentuch in der Tasche, das die Initialen P. L. C. trug. Fragend und beunruhigt sah er Mr Carter an.

«An der Küste von Yorkshire, in der Nähe von Ebury angetrieben. Es sieht sehr nach einem Verbrechen aus.»

«Mein Gott!», stöhnte Tommy. «Diese Schurken – ich werde nicht ruhen, bis ich mit ihnen abgerechnet habe. Ich werde sie zur Strecke bringen! Ich werde…»

«Ich weiß, was Sie empfinden, mein armer Junge. Aber es nützt ja nichts. Es mag hart klingen, aber ich kann Ihnen eines raten: Finden Sie sich mit dem Verlust ab. Die Zeit ist barmherzig. Sie werden vergessen.»

«Tuppence vergessen? Niemals!»

«Das glauben Sie jetzt. Die ganze Sache tut mir außerordentlich Leid – wirklich sehr Leid.»

Tommy riss sich jäh zusammen. «Ich nehme Ihre Zeit zu sehr in Anspruch, Sir», brachte er mit Mühe hervor. «Sie haben keine Veranlassung, sich Vorwürfe zu machen. Wir waren eben zu jung und zu unerfahren.»

Im Ritz packte Tommy seine wenigen Habseligkeiten, aber mit seinen Gedanken war er ganz woanders. Er war völlig verwirrt, dass das Schicksal mit solcher Härte in sein sonst so alltägliches Leben eingegriffen hatte. Wie viel Spaß hatten sie miteinander gehabt – Tuppence und er. Und jetzt – nein, er konnte es nicht glauben…

Man brachte ihm ein Schreiben, ein paar freundliche Worte des Mitgefühls von Edgerton, der die Nachricht in der Zeitung gelesen hatte. Die Überschrift hatte gelautet: EHEMALIGE ANGEHÖRIGE DES WEIBLICHEN HILFSDIENSTES WAHRSCHEINLICH ERTRUNKEN. Der Brief endete mit dem Angebot eines Postens auf einer Ranch in Argentinien, an der Sir James beteiligt war.

«Nett von ihm», murmelte Tommy, während er das Schreiben fallen ließ.