Die Tür wurde aufgerissen und Hersheimer stürmte herein. Er hielt eine Zeitung in der Hand. «Na hören Sie! Was saugen die sich denn da über Tuppence aus den Fingern?»
«Es ist wahr.»
«Wollen Sie damit sagen, die hätten sie erledigt?»
«Als sie den Vertrag in Händen hatten, war sie für sie wohl nichts mehr wert, und sie hatten Angst, sie laufen zu lassen.»
«Da soll doch der Teufel!», rief Hersheimer. «Das mutige Mädchen und…»
Jäh sprang Tommy auf. Es war ihm plötzlich alles unerträglich geworden. «Machen Sie, das Sie wegkommen! Ihnen ist es im Grunde doch ganz gleich! In Ihrer verdammten, kaltblütigen Art wollten Sie sie zwar heiraten – aber ich habe sie geliebt! Ich hätte ohne ein Wort der Widerrede mit angesehen, wenn sie Sie geheiratet hätte, weil Sie ihr das Leben bieten konnten, das sie verdient – während ich ja nur ein armer Teufel bin. Aber nicht, weil sie mir gleichgültig war!»
«Nun hören Sie mal zu», begann Hersheimer.
«Gehen Sie zum Teufel! Kümmern Sie sich um Ihre Kusine. Tuppence ist mein Mädchen. Ich habe sie immer schon geliebt, schon als wir als Kinder miteinander spielten. Dann in Schwesterntracht…»
Hersheimer unterbrach ihn. «Schwesterntracht! Bei Gott, ich muss ja nach Colney Hatch. Ich hätte darauf schwören können, dass ich Jane auch schon in Schwesterntracht gesehen habe. Aber das schien mir ganz unmöglich. Aber jetzt weiß ich es. Sie war es, die ich damals in dem Sanatorium in Bournemouth mit Whittington sprechen sah. Da war sie keine Patientin, sondern eine Schwester.»
«Wahrscheinlich hat sie von Anfang an mit den anderen unter einer Decke gesteckt», rief Tommy zornig. «Es würde mich nicht wundern, wenn sie Danvers die Papiere gestohlen hat.»
«Hol’s der Teufel!», schrie Hersheimer. «Sie ist meine Kusine.»
«Mir ist es ganz gleich, wer oder was sie ist! Verschwinden Sie endlich!», schrie Tommy.
Die beiden jungen Männer waren nah daran, mit den Fäusten aufeinander loszugehen. Plötzlich jedoch, wie durch Zauberei, verebbte Hersheimers Zorn.
«Schon gut. Ich mache Ihnen keine Vorwürfe. Es ist gut, dass Sie es gesagt haben. Ich bin doch wirklich einer der größten Idioten, die frei herumlaufen. Beruhigen Sie sich» – Tommy hatte eine ungeduldige Handbewegung gemacht –, «ich gehe gleich – zum Bahnhof der North Western Railway, falls Sie das interessiert.»
«Interessiert mich ganz und gar nicht», brummte Tommy. Als sich die Tür hinter Hersheimer schloss, trat Tommy wieder an seinen Koffer.
Wohin sollte er fahren? Er hatte keine Pläne, abgesehen von seiner Entschlossenheit, seine Rechnung mit Mr Brown zu begleichen. Noch einmal las er Sir James’ Brief und schüttelte den Kopf.
«Ich muss ihm wohl antworten.» Er trat an den Schreibtisch. Es fand sich dort zwar eine Unmenge Umschläge, jedoch kein Schreibpapier. Da fiel ihm ein, dass in Hersheimers Wohnzimmer ein ansehnlicher Vorrat Briefbogen lag.
Es war niemand im Zimmer. Tommy trat an den Schreibtisch und öffnete die Mittelschublade. Eine Fotografie, die mit dem Bild nach oben achtlos hineingeworfen war, fesselte seinen Blick. Er stand wie angewurzelt.
Wie in aller Welt kam ein Bild der kleinen Französin Annette in Hersheimers Schreibtisch?
21
Der Premierminister trommelte nervös auf die Schreibtischplatte. Sein Gesicht war abgespannt und voller Sorge. «Ich verstehe nicht ganz», sagte er. «Wollen Sie wirklich damit sagen, dass die Lage doch nicht ganz so schlimm ist?»
«Unser junger Mann scheint dieser Ansicht zu sein.»
«Zeigen Sie den Brief noch mal!» Dann las er:
Sehr geehrter Mr Carter,
es ist etwas geschehen, was mir wieder Auftrieb gegeben hat. Natürlich ist es möglich, dass ich mich blamiere, aber ich glaube es nicht. Wenn meine Vermutungen richtig sind, war die Sache mit dem Mädchen in Manchester Schwindel. Die Geschichte war inszeniert, um bei uns den Eindruck hervorzurufen, das Spiel sei verloren – und daher glaube ich auch, dass wir unserem Ziel sehr nah waren.
Ich glaube heute zu wissen, wer die wirkliche Jane Finn ist, und ich habe sogar eine Ahnung wo sich die Papiere befinden. Letzteres ist natürlich nur eine Vermutung. Aber ich habe das Gefühl, dass sie sich bewahrheiten wird. Auf jeden Fall habe ich meine Vermutung zu Papier gebracht, das ich Ihnen in dem versiegelten Umschlag übergebe; ich bitte Sie, ihn erst im allerletzten Augenblick, also um Mitternacht des Achtundzwanzigsten, zu öffnen.
Sie werden gleich verstehen, warum. Ich bin zu der Ansicht gekommen, dass Tuppences aufgefundene Sachen ebenfalls nur einen Zug in diesem falschen Spiel darstellen; sie ist ebensowenig ertrunken wie ich. Ich sage mir Folgendes: Ihre letzte Chance liegt darin, Jane Finn entweichen zu lassen – in der Hoffnung dass sie den Verlust ihres Gedächtnisses nur simuliert hat und dass sie, einmal freigelassen, sogleich das Versteck aufsuchen wird. Selbstverständlich riskieren sie damit außerordentlich viel – aber es liegt ihnen ja alles daran, diesen Vertrag in die Hände zu bekommen. Wenn sie aber wissen, dass wir die Papiere haben, ist das Leben beider Mädchen keinen Pfifferling mehr wert. Ich muss also versuchen, Tuppence zu finden, bevor Jane entweichen kann. Ich hätte gern eine Kopie jenes Telegramms, das Tuppence ins Ritz geschickt wurde. Sir James Peel Edgerton sagte, Sie könnten es mir beschaffen.
Noch etwas – lassen Sie bitte das Haus in Soho Tag und Nacht überwachen.
Ihr
Thomas Beresford
«Und der beigelegte Umschlag?», fragte der Premierminister.
«Im Banksafe. Ich will nichts mehr riskieren.»
«Glauben Sie nicht», der Premierminister zögerte einen Augenblick, «es wäre besser, diesen Umschlag jetzt zu öffnen? Wir sollten uns doch dieses Dokument sogleich beschaffen, das heißt, vorausgesetzt, dass die Vermutung des jungen Mannes zutrifft. Die Tatsache, dass wir es getan haben, können wir ja ohne weiteres verheimlichen.»
«Dessen bin ich nicht so sicher. Wir müssen mit Spitzeln rechnen. Sobald es bekannt ist, würde ich nicht so viel für das Leben der beiden Mädchen geben», er schnipste mit den Fingern. «Nein, Beresford hat mir sein Vertrauen geschenkt, ich kann ihn nicht hintergehen.»
«Gut, dann belassen wir es dabei. Was ist denn mit diesem Beresford?»
«Er wirkt wie ein ganz alltäglicher, gut gewachsener, etwas eigensinniger junger Mann. Er hat wenig Fantasie und ist daher schwer zu täuschen. Er ist ungeheuer zäh, und hat er erst einmal etwas gepackt, lässt er es nicht mehr los. Die junge Dame ist da ganz anders. Mehr Intuition und weniger Nüchternheit. Sie ergänzen sich ausgezeichnet. Eine Mischung von Temperament und Zuverlässigkeit.»
«Er scheint sehr zuversichtlich.»
«Ja, und das ist es gerade, was mich hoffen lässt. Er gehört zu den Leuten, die sich selber gegenüber voller Misstrauen sind und einer Sache sehr sicher sein müssen, bevor sie überhaupt eine Ansicht äußern.»
«Und der junge Mann wird also diesen raffinierten Verbrecher zu Fall bringen?»
«Ja, das will er… Aber manchmal glaube ich, hinter ihm einen Schatten aufragen zu sehen – Peel Edgerton.»
«Peel Edgerton?»
«Ja, hier hat er sicher seine Hand im Spiel. So ist er – arbeitet verschwiegen und unauffällig. Übrigens schickte er mir neulich einen Ausschnitt aus einer amerikanischen Zeitung. Es war da von der Leiche eines Mannes die Rede, die vor etwa drei Wochen in der Hafengegend New Yorks gefunden wurde. Er bat mich, jede nur mögliche Information darüber einzuholen.»
«Na und?»
«Ich bekam nicht viel zusammen. Ein junger Mensch von etwa fünfunddreißig Jahren – ärmlich gekleidet –, das Gesicht übel zugerichtet. Er wurde niemals identifiziert.»
«Und Sie glauben, dass die beiden Angelegenheiten miteinander zusammenhängen?»