Wieder spürte Tommy ein Gefühl der Unsicherheit. War er wieder auf eine falsche Fährte geraten? Der Herr mit Brille und blondem Bart am einen Ende des Tisches wirkte besonders vertrauenswürdig.
In dieser Nacht schlief Tommy sehr schlecht. Am folgenden Morgen hatte der unermüdliche Albert bereits eine Freundschaft mit dem Lehrling des Gemüsehändlers geschlossen und seinen Platz eingenommen, um die Köchin von Astley Priors auszuhorchen. Er kehrte mit der Nachricht zurück, sie sei zweifellos «eine von den Verbrechern». Aber Tommy misstraute Alberts lebhafter Fantasie. In der Tat vermochte er nichts vorzubringen, was seine Behauptung hätte stützen können.
Am nächsten Tag übernahm Albert noch einmal die Vertretung des Gemüsehändlerburschen, sehr zu dessen finanziellem Vorteil. Von seinem zweiten Ausflug brachte er eine viel versprechende Nachricht mit. Es wohne tatsächlich eine junge Französin im Haus. Tommy schob alle seine Zweifel beiseite. Das war die Bestätigung seiner Theorie. Doch die Zeit drängte. Es war der Siebenundzwanzigste. Schon waren allerlei Gerüchte in Umlauf. Einige Zeitungen griffen sie auf. Behauptungen über bevorstehende Unruhen wurden laut. Aber niemand wusste Näheres. Die Regierung nahm keine Stellung.
Das Ganze ist das Unternehmen eines einzigen Mannes, sagte sich Tommy. Jetzt kommt es nur darauf an, ihn in die Hand zu bekommen.
Dass er Mr Carter gebeten hatte, den versiegelten Umschlag nicht zu öffnen, war zum Teil auf diese ehrgeizigen Pläne zurückzuführen. Der Vertragsentwurf war Tommys Köder. Ab und zu bekam er selber Angst vor seiner eigenen Courage. Wie konnte er zu glauben wagen, dass er das entdeckt hätte, was so viele klügere und tüchtigere Männer übersehen hatten? Dennoch klammerte er sich eigensinnig an seinen Plan.
An diesem Abend drangen er und Albert nochmals in den Garten von Astley Priors ein. Tommy hatte dabei die Absicht, in das Haus zu gelangen. Als sie sich ihm vorsichtig näherten, hielt Tommy jäh den Atem an. Im zweiten Stockwerk warf jemand, der zwischen dem Fenster und dem Licht stand, einen Schatten auf den Vorhang. Es war eine Silhouette, die Tommy überall erkannt hätte: Tuppence!
Er ergriff Albert an der Schulter. «Bleib hier! Wenn ich zu singen beginne, beobachte das Fenster.»
Er kehrte eilig auf den Anfahrtsweg zurück und begann mit tiefer Stimme, wobei er im Gehen etwas unsicher hin und her schwankte, ein kleines Lied zu singen, das Tuppence kannte. Als sie noch im Lazarett gewesen war, hatte es zu ihren Lieblingsschlagern gehört. Er zweifelte nicht, dass sie es sofort erkennen und daraus ihre Schlüsse ziehen würde. Tommy war völlig unmusikalisch. Der Lärm, den er verursachte, war erschreckend.
Es dauerte nicht lange, bis ein untadeliger Diener, begleitet von einem ebenso untadeligen Butler, aus der Haustür trat. Der Diener stellte Tommy zur Rede. Aber der sang fröhlich weiter. Der Butler ergriff ihn an dem einen und der Diener am anderen Arm. So führten sie ihn die Auffahrt entlang und bis vor das Tor. Es war ein gelungener Auftritt, an dem alles echt wirkte. Jeder hätte geschworen, der Diener sei ein echter Diener und der Butler ein echter Butler. Aber der Diener war niemand anders als Whittington.
Tommy kehrte ins Gasthaus zurück und wartete auf Albert. Schließlich erschien er.
«Was ist?», rief Tommy.
«Alles in Ordnung. Während die beiden Sie hinausführten, wurde das Fenster geöffnet und etwas hinausgeworfen.» Er reichte Tommy ein Stück Papier. «Es war um einen Briefbeschwerer gewickelt.»
Auf dem Papier standen nur drei Worte: Morgen gleiche Zeit.
«Großartig!», rief Tommy. «Jetzt kommen wir in Fahrt.»
«Ich schrieb auch eine Nachricht auf ein Stück Papier, wickelte es um einen Stein und warf ihn zum Fenster hinein», fuhr Albert fort.
Tommy stöhnte. «Das kann uns teuer zu stehen kommen.»
«Ich schrieb, wir wohnten im Gasthaus. Wenn sie weg könnte, sollte sie hinkommen und wie ein Frosch quaken.»
«Auf jeden Fall wird sie wissen, dass du es warst», erklärte Tommy mit einem Seufzer der Erleichterung. «Deine Fantasie geht immer mit dir durch, Albert. Würdest du ein Froschquaken erkennen, wenn du es hörtest?»
Albert sah ziemlich niedergeschlagen aus.
«Kopf hoch! Es ist ja nichts Schlimmes geschehen. Dieser Diener ist ein alter Bekannter – ich wette, er wusste, wer ich war, obwohl er es nicht zu erkennen gab. Es gehört nicht zu ihren Spielregeln, Argwohn zu verraten. Deswegen haben wir es bisher auch nicht so schwer gehabt. Sie wollen mich nicht völlig entmutigen. Andererseits wollen sie es mir auch nicht zu leicht machen. Ich bin ein Steinchen in ihrem Spiel. Sie wissen nur nicht, dass ich das weiß.»
Tommy ging ziemlich guter Dinge schlafen. Für den folgenden Abend hatte er einen genauen Plan ausgearbeitet. Er war sicher, dass die Bewohner von Astley Priors ihn bis zu einem gewissen Punkt nicht stören würden. Tommy jedoch hatte die Absicht, ihnen über diesen Punkt hinaus eine hübsche Überraschung zu bereiten.
Gegen zwölf Uhr wurde er aus seiner Ruhe aufgescheucht. Man sagte ihm, es erwartete ihn jemand unten an der Theke. Der Betreffende war ein ziemlich grobschlächtiger Fuhrmann.
«Nun, was gibt es?», fragte Tommy.
«Könnte dies für Sie sein, Sir?» Der Fuhrmann hielt ihm ein schmutziges, zusammengefaltetes Stück Papier hin, auf dem stand: Bringen Sie dies dem Herrn im Gasthaus bei Astley Priors. Er wird Ihnen zehn Shilling geben.
Es war Tuppences Handschrift. Tommy freute sich über ihre Geistesgegenwart. Offenbar hatte sie daran gedacht, dass er unter falschem Namen im Gasthaus wohnen konnte. Eilig holte er einen Zehnshillingschein hervor und der Mann gab seinen Schatz heraus. Tommy entfaltete den Bogen.
Lieber Tommy,
ich weiß, dass du es warst. Komm nicht morgen Abend1. Sie werden dir auflauern. Heute früh schafft man uns weg. Ich hörte etwas von Wales – Holyhead, glaube ich. Wenn ich Gelegenheit dazu habe, lasse ich dies unterwegs fallen. Annette hat mir erzählt, wie du entkommen bist. Kopf hoch.
Twopence
Holyhead? Bedeutete dies, dass vielleicht doch… Tommy war verwirrt. Nochmals las er nun den Brief Wort für Wort.
Plötzlich rief Tommy: «Ich bin ein Idiot!» Nachdenklich strich er den Bogen glatt. «Aber das ist jemand anders auch. Und endlich weiß ich, wer es ist.»
23
In seiner Zimmerflucht im Claridge lehnte sich Kramenin auf seiner Couch zurück und diktierte seinem Sekretär. Plötzlich summte das Telefon; der Sekretär nahm den Hörer ab, sagte ein paar Worte und wandte sich dann an seinen Chef: «Unten ist jemand, der Sie sprechen möchte.»
«Wer ist es?»
«Julius P. Hersheimer.»
«Hersheimer» wiederholte Kramenin nachdenklich. «Den Namen habe ich schon mal gehört.»
«Sein Vater war ein amerikanischer Stahlkönig», erklärte der Sekretär. «Dieser junge Mann muss ein vielfacher Millionär sein.»
Die Augen des anderen verengten sich. «Gehen Sie mal runter und stellen Sie fest, was er will.»
Der Sekretär gehorchte und schloss geräuschlos die Tür hinter sich. Nach einigen Minuten kam er wieder.
«Er lehnt es ab, über sein Anliegen zu sprechen. Es sei eine persönliche Angelegenheit.»
«Ein vielfacher Millionär», murmelte Kramenin. «Führen Sie ihn herauf.»
Wieder verließ der Sekretär das Zimmer und kam in Hersheimers Begleitung zurück.
«Monsieur Kramenin?», fragte der unvermittelt.
Kramenin musterte ihn.
«Ich freue mich, Sie kennen zu lernen», sagte der Amerikaner. «Ich hätte mich gern mit Ihnen über ein paar sehr wichtige Fragen unterhalten, falls ich Sie unter vier Augen sprechen dürfte.»
«Bitte», sagte Kramenin leise zu dem Sekretär. «Sie hätten vielleicht nichts dagegen, sich in das nächste Zimmer zurückzuziehen.»