«Verdammt!», rief Hersheimer. «Jane, du bleibst hier!»
Mit einer jähen Bewegung entriss Tommy Hersheimer die Pistole und richtete sie auf ihn.
«Glaubt ihr mir jetzt? Steigt aus und tut, was ich sage, oder ich schieße!»
Tuppence sprang hinaus und zog die widerstrebende Jane mit sich. «Komm nur mit, es ist schon gut. Wenn Tommy einer Sache sicher ist, dann stimmt es. Schnell! Sonst verpassen wir den Zug.»
Hersheimer versuchte seinem unterdrückten Zorn Luft zu machen. «Was zum Teufel…»
Tommy unterbrach ihn. «Still! Jetzt habe ich Ihnen einiges zu sagen, Mr Hersheimer.»
24
Sie kamen gerade in dem Augenblick auf den Bahnsteig gestürzt, als der Zug anhielt. Tuppence riss die Tür eines Abteils erster Klasse auf und die beiden Mädchen sanken atemlos auf die Polster nieder.
Ein Mann blickte hinein und ging dann zum nächsten Wagen weiter. Nervös war Jane aufgefahren. «Glaubst du, dass es einer von ihnen ist?», stieß sie hervor.
Tuppence schüttelte den Kopf. «Nein!» Sie nahm Janes Hand. «Tommy hätte nicht behauptet, wir seien in Sicherheit, wenn er seiner Sache nicht völlig sicher wäre.»
«Aber er kennt sie nicht so wie ich!» Das Mädchen erschauerte. «Fünf Jahre. Fünf lange Jahre! Manchmal glaubte ich, ich würde verrückt.»
«Vergiss es. Es ist ja jetzt vorbei!»
«Wirklich?»
Der Zug war angefahren und brauste mit immer höherer Geschwindigkeit durch die Nacht. Plötzlich fuhr Jane Finn auf. «Was war das? Ich habe ein Gesicht gesehen – an unserm Fenster.»
«Aber nein, da ist doch nichts. Sieh mal.» Tuppence war ans Fenster getreten und ließ es herab.
Jane schien das Gefühl zu haben, dass eine Erklärung notwendig sei. «Ich benehme mich wohl wie ein erschrecktes Kaninchen, aber ich kann nicht anders. Wenn sie mich jetzt kriegen, würden sie…»
«Lehn dich zurück und denk nicht mehr an sie», flehte Tuppence. «Du kannst dich darauf verlassen, dass Tommy uns auf den richtigen Weg geschickt hat.»
«Mein Vetter war aber ganz anderer Meinung.»
«Stimmt», erwiderte Tuppence ein wenig verlegen.
«Woran denkst du?», fragte Jane scharf.
«Warum?»
«Deine Stimme klang so seltsam!»
«Ich dachte tatsächlich an etwas», sagte Tuppence. «Aber ich möchte es dir nicht sagen – noch nicht. Es ist nur so ein Gedanke, der mir schon vor langer Zeit einmal gekommen ist. Tommy denkt wohl dasselbe – jedenfalls glaube ich es mit ziemlicher Sicherheit. Ruh dich jetzt aus und denk möglichst an gar nichts!»
«Ich will es versuchen.»
Tuppence saß aufrecht da – die Haltung eines wachsamen Terriers. Obwohl sie sich dagegen wehrte, war sie nervös. Ihre Augen wechselten ständig von einem Fenster zum anderen. Sie merkte sich die Lage der Notbremse. Was sie eigentlich befürchtete, hätte sie kaum zu sagen gewusst. Aber in ihren Gedanken war sie weit von der Zuversicht entfernt, die ihre Worte vortäuschten. Nicht dass sie Tommy nicht glaubte, doch es kamen ihr immer wieder Zweifel, ob ein so aufrechter und anständiger Mensch wie er jemals der Gewandtheit und Entschlossenheit ihres Gegners gewachsen sein könnte.
Als der Zug schließlich auf dem Bahnhof Charing Cross einlief, fuhr Jane Finn jäh auf. «Sind wir da? Ich dachte, wir würden niemals ankommen.»
«Ach, ich glaubte schon, dass wir es bis London schaffen würden. Sollte es irgendwelche Schwierigkeiten geben, so wäre dies der Augenblick, in dem wir sie erwarten müssten. Schnell, steig aus. Wir springen in ein Taxi.»
Einen Augenblick später verließen sie den Bahnsteig, bezahlten den Fahrpreis nach und stiegen in ein Taxi.
«King’s Cross», rief Tuppence. Dann fuhr sie zusammen. Ein Mann blickte zum Fenster hinein, gerade als der Wagen anfuhr. Sie war beinahe sicher, dass es der gleiche Mann war, der in den nächsten Wagen hinter ihnen gestiegen war. Sie hatte das entsetzliche Gefühl, von allen Seiten eingekreist zu werden.
«Verstehst du», erklärte sie Jane, «wir locken sie so auf eine falsche Fährte. Nun werden sie annehmen, dass wir zu Mr Carter fahren. Sein Landhaus liegt irgendwo nördlich von London.»
Als sie durch Holborn fuhren, gerieten sie in eine Verkehrsstockung. Darauf hatte Tuppence gewartet. «Schnell», flüsterte sie. «Offne die rechte Tür!»
Die beiden Mädchen standen mitten im Verkehr. Zwei Minuten später saßen sie in einem anderen Taxi und fuhren in umgekehrter Richtung, dieses Mal direkt zur Carlton House Terrace.
«Damit sollten wir ihnen eins ausgewischt haben», sagte Tuppence mit großer Befriedigung. «Ich kann mir nicht helfen, aber ich finde mich wirklich sehr tüchtig. Der andere Taxifahrer wird ja toben! Aber ich habe mir seine Nummer aufgeschrieben und morgen schicke ich ihm das Geld durch die Post, um ihn nicht zu prellen. Was schlingert denn der Wagen so – oh!» Ein schepperndes Geräusch und ein dumpfer Schlag. Ein anderes Taxi war mit ihnen zusammengestoßen.
Im nächsten Augenblick stand Tuppence auf dem Bürgersteig. Ein Polizist näherte sich. Bevor er noch da war, hatte Tuppence dem Fahrer fünf Shilling gegeben und sie und Jane tauchten in der Menge unter.
«Nun sind es nur noch ein paar Schritte», sagte Tuppence atemlos.
«Glaubst du, dass dieser Zusammenstoß zufällig oder beabsichtigt war?»
«Ich weiß es nicht. Beides ist möglich.»
Rasch eilten die beiden Mädchen weiter.
«Vielleicht bilde ich mir es nur ein», sagte Tuppence plötzlich, «aber ich habe das Gefühl, als ob jemand hinter uns her wäre.»
«Beeilen wir uns!», murmelte die andere. «Oh, nur schnell!»
Sie waren nun an der Ecke von Carlton House Terrace angelangt und fassten schon wieder Mut. Plötzlich trat ihnen ein großer, offenbar betrunkener Mann in den Weg. «Guten Abend, meine Damen», lallte er. «Wohin so schnell?»
«Lassen Sie uns vorbei», rief Tuppence heftig.
«Nur ein Wort mit Ihrer hübschen kleinen Freundin.» Er streckte unsicher eine Hand aus und packte Jane an der Schulter. Tuppence hörte andere Schritte hinter sich. Sie nahm sich nicht die Zeit, festzustellen, ob es Freunde oder Feinde waren. Sie senkte den Kopf und wiederholte ein Manöver aus den Tagen ihrer Kindheit, indem sie ihrem Angreifer gegen den Bauch rannte. Der Erfolg war überwältigend. Der Mann setzte sich ziemlich jäh auf den Bürgersteig. Tuppence und Jane machten, dass sie weiterkamen. Das Haus, das sie suchten, lag noch ein Stück entfernt. Andere Schritte waren nun hinter ihnen zu hören. Als sie an die Tür von Sir James gelangten, keuchten sie vom schnellen Lauf. Tuppence läutete und Jane hämmerte mit dem Klopfer.
Der Mann, der sie aufgehalten hatte, war nun bis an die unterste Stufe gelangt. Einen Augenblick zögerte er. Da öffnete sich auch schon die Tür. Zusammen taumelten sie in die Diele. Sir James trat gerade aus der Bibliothek. «Hallo! Was ist denn los?»
Er kam auf sie zu und legte seinen Arm um Jane. Er stützte sie, als sie in die Bibliothek gingen, und ließ sie sich auf die Couch legen. Aus einer Karaffe auf dem Tisch schenkte er etwas Kognak in ein Glas und bat sie, ihn zu trinken. Mit einem Seufzer richtete sie sich auf, ihre Augen waren noch immer wild und verängstigt.
«Es ist ja alles gut. Sie brauchen nichts mehr zu befürchten, mein Kind. Sie sind in Sicherheit.»
Ihr Atem ging nun regelmäßiger, und die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. Sir James sah Tuppence fragend an. «Sie sind also ebenso wenig tot, Miss Tuppence, wie Ihr Freund Tommy!»
«Die Jungen Abenteurer sind nicht umzubringen!»
«Es sieht wirklich so aus», antwortete Sir James trocken. «Ist meine Vermutung begründet, dass das Unternehmen mit Erfolg geendet hat und dass dies hier» – er wandte sich zu dem Mädchen auf der Couch – «Miss Jane Finn ist?»