Ich nahm es und drehte es ein wenig verwundert in den Händen. Dann schüttelte ich den Kopf. Ich sagte, ich hätte wohl das Gefühl, ich sollte mich im Zusammenhang damit an irgendetwas erinnern. Dann erklärte sie mir, ich sei ihre Nichte und ich solle sie ‹Tante Rita› nennen. Das tat ich gehorsam und sie sagte mir, ich solle mir keine Sorgen machen – mein Gedächtnis würde bald wiederkehren.
Es war eine entsetzliche Nacht. Ich hatte mir meinen Plan zurechtgelegt. Ich wartete, bis ich meinte, es müsste ungefähr zwei Uhr morgens sein. Dann stand ich so leise wie möglich auf und tastete mich in der Dunkelheit an der linken Wand entlang. Vorsichtig nahm ich eins der Bilder vom Haken ab – es stellte Margarete mit ihrem Schmuckkästchen dar. Ich schlich mich zu meinem Mantel, nahm die Zeitschrift aus der Tasche und ein paar Umschläge, die ich ebenfalls hineingestopft hatte. Dann ging ich zum Waschtisch und feuchtete das braune Papier auf der Rückseite des Bildes ringsherum an. Nach einer Weile konnte ich es abziehen. Die beiden zusammengeklebten Seiten aus der Zeitschrift hatte ich bereits herausgerissen und nun ließ ich sie zwischen das Bild und das braune Papier auf der Rückseite gleiten. Mit ein wenig Leim von den Umschlägen gelang es mir, das Papier wieder anzukleben. Niemand hätte annehmen können, dass mit dem Bild etwas geschehen sei. Ich hängte es wieder an die Wand, steckte die Zeitschrift in meine Manteltasche zurück und kroch ins Bett. Ich hoffte nur, dass sie annahmen, Danvers hätte die ganze Zeit über nur eine Attrappe bei sich getragen, und dass sie mich schließlich gehen ließen. Tatsächlich war es das, was sie anfangs auch glaubten; und gerade das war für mich gefährlich. Später erfuhr ich, dass sie mich dort und damals fast aus dem Weg geräumt hätten – es hatte niemals ernsthaft die Absicht bestanden, mich laufen zu lassen, aber der erste Mann, der Chef, zog es vor, mich am Leben zu lassen, da immerhin noch die Möglichkeit bestand, dass ich die Papiere versteckt haben und mich, falls mein Gedächtnis wiederkehrte, daran erinnern könnte. Wochen hindurch beobachteten sie mich unausgesetzt. Zuweilen stellten sie mir stundenlang Fragen – es gab wohl nichts, was sie nicht über die Methoden von Kreuzverhören und dergleichen wussten. Aber es war eine Folter.
Sie brachten mich nach Irland zurück. Ich musste jede Phase der Reise von neuem erleben, für den Fall, dass ich die Papiere irgendwo unterwegs versteckt hätte. Mrs Vandemeyer und eine andere Frau ließen mich nicht einen Augenblick allein. Sie sprachen von mir als einer jungen Verwandten von Mrs Vandemeyer, die durch die Erlebnisse an Bord der Lusitania einen schweren Schock erlitten hätte. Es gab niemanden, an den ich mich um Hilfe wenden konnte. Und selbst wenn ich eine Flucht riskierte, und sie gelang, würde man der eleganten Mrs Vandemeyer mehr glauben als mir und annehmen, es gehöre zu meinem Nervenschock, mich für verfolgt zu halten. Wenn sie aber darauf gekommen wären, dass ich simulierte, hätte mir Entsetzliches bevorgestanden.»
Sir James nickte verständnisinnig.
«Das Ganze endete schließlich damit, dass ich in ein Sanatorium in Bournemouth geschickt wurde. Zunächst konnte ich mir nicht darüber schlüssig werden, ob es sich dabei nur um ein Scheinunternehmen handelte. Eine Krankenschwester nahm sich meiner an. Ich galt als schwerer Fall. Sie schien mir so nett und so normal, dass ich mich schließlich entschloss, mich ihr anzuvertrauen. Ein gütiges Geschick bewahrte mich aber gerade noch rechtzeitig davor, in diese Falle zu gehen. Meine Tür stand einmal zufällig offen und da hörte ich, wie sie auf dem Gang mit jemandem sprach. Sie war eine von der Bande! Man hielt es noch immer für möglich, dass ich simulierte, und ihre Aufgabe war es, das festzustellen. Danach hatte ich allen Mut verloren.
Ich glaube, dass ich mich selber sozusagen hypnotisierte. Nach einiger Zeit hatte ich fast wirklich vergessen, dass ich Jane Finn war. Ich hatte mich so sehr in die Rolle der Janet Vandemeyer hineingespielt, dass meine Nerven anfingen, mir Streiche zu spielen. Ich wurde krank – Monate hindurch versank ich in eine Art Dämmerzustand. Ich war überzeugt, dass ich bald sterben würde, und allmählich wurde mir alles gleichgültig. Ein gesunder Mensch, der in eine Irrenanstalt gelangt, kann schließlich selber wahnsinnig werden, heißt es. Ich glaube, bei mir war es ähnlich. Es war mir zur zweiten Natur geworden, meine Rolle zu spielen. Am Ende war ich nicht einmal unglücklich – nur apathisch. So verstrichen die Jahre. Plötzlich jedoch schien sich alles zu ändern. Mrs Vandemeyer kam aus London. Sie und der Arzt stellten Fragen an mich und versuchten es mit verschiedenen Behandlungsmethoden. Es war sogar die Rede davon, mich zu einem Spezialisten nach Paris zu schicken. Am Ende wagten sie das jedoch nicht. Ich hörte einmal, das man davon sprach, andere Leute – Freunde – suchten nach mir.
Eines Nachts wurde ich ganz überstürzt nach London geschafft. Man brachte mich zurück in das Haus in Soho. Sobald ich das Sanatorium hinter mir gelassen hatte, fühlte ich mich anders – als ob etwas in mir, das lange Zeit verschüttet gewesen war, von neuem erwachte.
Man beauftragte mich, Mr Beresford zu bedienen. (Natürlich war mir damals sein Name nicht bekannt.) Ich war argwöhnisch – denn ich hielt es für eine neue Falle. Aber er wirkte so anständig, dass ich diesen Verdacht wieder fallen ließ. Aber ich war vorsichtig in allem, was ich sagte, denn ich wusste ja, dass man uns belauschen konnte. Ganz oben in der Wand befindet sich das kleine Guckloch.
Am Sonntagnachmittag wurde eine Botschaft ins Haus gebracht. Alle waren sehr verwirrt. Ohne dass es jemand merkte, lauschte ich. Es war der Befehl gekommen, Beresford sollte umgebracht werden. Ich brauche nicht zu erzählen, was sich dann ereignete, denn das ist ja bekannt. Ich glaubte, ich würde Zeit genug finden, hinaufzueilen und die Papiere aus ihrem Versteck zu holen, wurde aber aufgehalten. Da schrie ich, er sei im Begriff zu fliehen, und sagte, ich wollte zu Marguerite zurückkehren. Dreimal rief ich sehr laut diesen Namen. Die anderen mussten denken, ich meinte Mrs Vandemeyer, aber ich hoffte, ich würde dadurch Mr Beresfords Aufmerksamkeit auf das Bild lenken. Er hatte am ersten Tag eines der Bilder von der Wand genommen – und das hatte mich wiederum veranlasst, ihm zu misstrauen.»
Sie hielt inne.
«Also befinden sich die Papiere noch immer an der Rückseite des Bildes in seinem Zimmer», sagte Sir James.
«Ja.»
Sir James erhob sich. «Kommen Sie. Wir müssen sofort hin.»
«Heute Abend noch?», fragte Tuppence überrascht.
«Morgen könnte es zu spät sein. Außerdem haben wir heute Abend immerhin die Möglichkeit, den großen Fisch zu fangen – Mr Brown!»
Es folgte tiefes Schweigen.
Sir James fuhr fort: «Man ist Ihnen hierher gefolgt – darüber besteht gar kein Zweifel. Wenn wir dieses Haus verlassen, wird man uns wiederum folgen, aber nicht belästigen, denn es liegt natürlich in Mr Browns Absicht, dass wir ihm den Weg zeigen. Das Haus in Soho steht jedoch Tag und Nacht unter Bewachung. Die Wachtposten lassen es nicht einen Augenblick aus den Augen. Wenn wir dieses Haus betreten, wird Mr Brown alles auf eine Karte setzen, in der Hoffnung, den Funken zu finden, durch den er seine Sprengladung entzünden kann. Er wird das Risiko kaum für zu groß halten – da er als Freund verkleidet auftreten wird!»
Tuppence konnte nicht länger an sich halten und sagte: «Aber es gibt etwas, das Sie noch nicht wissen – wir haben es Ihnen noch nicht erzählt.» Ihre Augen ruhten verwirrt auf Jane.
«Was ist es?», fragte Sir James.
«Es ist so schwierig, verstehen Sie; wenn ich Unrecht hätte, wäre es unverantwortlich.» Sie sah Jane an, die nun wie leblos dalag. «Sie würde mir niemals verzeihen», erklärte sie geheimnisvoll.