Jane trat sofort auf das Bild von Gretchen zu. Sir James reichte ihr ein Taschenmesser und sie schnitt das braune Papier auf der Rückseite herunter. Die Anzeigenseiten einer Zeitschrift fielen heraus. Jane hob sie auf, trennte die zusammengeklebten Seiten und zog zwei dünne Bogen, die mit Schriftzeichen bedeckt waren, hervor.
Es waren die echten Papiere!
«Da haben wir sie», sagte Tuppence. «Endlich!»
Die Erregung verschlug ihr fast den Atem. Vergessen war das leise Knarren, waren die eingebildeten Geräusche, die sie eben noch zu hören geglaubt hatte.
Sir James nahm die Papiere und betrachtete sie kritisch. «Ja, das ist der unheilvolle Vertragsentwurf!»
«Wir haben es geschafft!», rief Tuppence. Doch in ihrer Stimme lag eine gewisse Scheu, als könnte sie es noch immer nicht fassen.
Sir James wiederholte ihre Worte, während er das Papier in seine Brieftasche legte. Dann blickte er sich neugierig in dem schmutzigen Raum um. «Hier war also unser junger Freund so lange eingesperrt. Keine Fenster und die dicke, fest schließende Tür. Was hier auch geschieht, draußen würde man nichts hören.»
Tuppence erschauerte. Seine Worte erweckten in ihr neue Unruhe. Wenn sich nun doch jemand im Haus verborgen hielt? Jemand, der diese Tür hinter ihnen schloss und sie wie Ratten in einer Falle einem elenden Tod überließ? Aber dann wurde ihr klar, wie dumm diese Befürchtung war. Das Haus war ja von Polizeibeamten umstellt, die ins Haus eindringen und nach ihnen suchen würden, falls sie nicht wieder auftauchten. Sie lächelte über ihre eigene Torheit – und blickte dann jäh auf.
Sir James betrachtete sie. Er nickte ihr zu, als wollte er ihr beipflichten. «Ganz richtig, Miss Tuppence. Sie spüren eine Gefahr. Ich auch. Und Miss Finn ergeht es nicht anders.»
«Ja», gab Jane zu. «Es ist dumm, aber…»
Wieder nickte Sir James. «Sie spüren – wie wir alle – die Gegenwart von Mr Brown. Ja», fuhr er fort, als Tuppence eine Bewegung machte, «es besteht kein Zweifel – Mr Brown ist hier…»
«In diesem Haus?»
«In diesem Zimmer… Verstehen Sie noch immer nicht? Ich bin Mr Brown!»
Bestürzt starrten sie ihn an. Er lächelte, ein genießerisches Lächeln.
«Keine von Ihnen wird dieses Zimmer lebend verlassen. Der Vertragsentwurf gehört jetzt mir.» Sein Lächeln wurde noch breiter. «Soll ich Ihnen erzählen, wie die Sache weitergeht? Früher oder später wird die Polizei drei Opfer von Mr Brown finden – drei und nicht zwei, wohlverstanden, aber glücklicherweise wird das dritte Opfer nicht tot sein, sondern nur verwundet, und daher in der Lage, den Überfall in allen Einzelheiten zu schildern. Der Vertrag? Er befindet sich in Händen von Mr Brown. Es wird niemand auf den Gedanken kommen, die Taschen von Sir James Peel Edgerton zu durchsuchen!» Er wandte sich an Jane. «Sie haben mich überlistet. Das gebe ich zu. Aber Sie werden es nicht noch einmal tun.» Hinter ihm war ein leises Geräusch zu hören, aber er merkte es nicht. Er ließ die rechte Hand in seine Tasche gleiten.
Noch während er diese Bewegung machte, wurde er plötzlich von hinten mit eisernem Griff umklammert. Die Pistole wurde seiner Hand entwunden und Hersheimer sagte in gedehntem Tön: «Na, jetzt haben wir Sie auf frischer Tat ertappt!»
Sir James’ Selbstbeherrschung war bewundernswert. Er betrachtete seine beiden Gegner. Am längsten ruhte sein Blick auf Tommy. «Sie!», stieß er hervor. «Sie! Das hätte ich mir denken sollen!»
Als sie sahen, dass er offenbar keinen Widerstand zu leisten beabsichtigte, lockerten sie ihren Griff. Da hob er seine Hand zum Mund, die Hand mit dem großen Siegelring…
Sein Gesicht veränderte sich und unter krampfartigen Zuckungen sank er zu Boden, während sich ein Geruch wie nach bitteren Mandeln ausbreitete.
26
Ein Festessen, das Mr Hersheimer einigen Freunden am Abend des Dreißigsten gab, blieb in Hotelkreisen noch lange in Erinnerung. Es fand in einem der Privaträume des Savoy statt und Mr Hersheimers Anweisungen waren kurz und bündig. Er gab dem Küchenchef eine Blankovollmacht – und wenn ein vielfacher Millionär eine Blankovollmacht gibt, dann erhält er auch etwas dafür!
Jede nur denkbare Delikatesse wurde herbeigeschafft. Kellner trugen Flaschen erlesensten alten Weins herein. Die Blumen der Dekorationen übertrafen jede Vorstellung. Früchte aller Art und aller Jahreszeiten häuften sich. Die Schar der Gäste war klein, aber erlesen. Es waren der amerikanische Botschafter, Mr Carter, der, wie er sagte, sich die Freiheit genommen hatte, einen alten Freund mitzubringen, Sir William Beresford, der Erzdiakon Cowley, Dr. Hall, die beiden Jungen Abenteurer, Miss Prudence Cowley und Mr Thomas Beresford, und schließlich Miss Jane Finn.
Hersheimer hatte keine Mühe gescheut, Janes Erscheinen zu einem vollen Erfolg zu machen. Ein geheimnisvolles Klopfen hatte Tuppence an die Tür der Zimmerflucht geführt, die sie mit der jungen Amerikanerin teilte. Draußen stand Hersheimer. In seiner Hand hielt er einen Scheck.
«Hören Sie, Tuppence», begann er, «wollen Sie mir einen Gefallen tun? Nehmen Sie das und lassen Sie Jane für heute Abend richtig ausstatten. Sie werden heute Abend alle mit mir im Savoy essen. Ja? Scheuen Sie keine Ausgabe.»
«Darauf können Sie sich verlassen!», rief Tuppence. «Es wird ein Vergnügen sein. Jane ist wohl das hübscheste Mädchen, das ich kenne.»
«Das finde ich auch», stimmte Hersheimer ihr zu.
Seine Begeisterung reizte Tuppence. «Übrigens, Mr Hersheimer, Sie haben mich doch gefragt, ob ich Sie heiraten will. Ich habe es mir also reiflich überlegt…»
«Und?», fragte Hersheimer. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Tuppence lachte auf.
«Sie sind doch ein großer Idiot. Ich habe gleich gesehen, dass Sie keinen Penny für mich geben würden.»
«Aber keineswegs! Ich hatte und habe noch immer die größte Hochachtung vor Ihnen, ja, ich bewundere Sie…»
«Schon gut! Das sind Empfindungen, die schnell vergehen, wenn jemand anders – wenn die Richtige auftaucht. Nicht wahr, alter Freund, so ist es doch?»
«Ich weiß nicht, was Sie meinen», antwortete Hersheimer betreten. Tuppence lachte und schloss die Tür.
Der Neunundzwanzigste verlief genauso wie jeder andere Tag. Diejenigen Zeitungen, die auf möglicherweise drohende Terrorgefahren hingewiesen hatten, machten nun verlegene Rückzieher. Niemand wusste mehr recht, wie eigentlich die Nachrichten von bevorstehenden Unruhen oder gar von einem Staatsstreich entstanden waren. In den Sonntagszeitungen erschien eine kurze Nachricht über den plötzlichen Tod von James Peel Edgerton, dem berühmten Kronanwalt. Die Montagszeitungen befassten sich ausgiebig mit der Laufbahn des Verblichenen. Niemals jedoch verlautete etwas darüber, auf welche Weise er eigentlich den Tod gefunden hatte.
Tommy hatte mit seiner Beurteilung der Sache Recht behalten. Es war wirklich eine Organisation gewesen, die von einem einzigen Mann geführt wurde. Ihres geheimnisvollen Führers beraubt, zerfiel sie. Kramenin hatte England Sonntagfrüh verlassen. Die Bande war panikartig aus Astley Priors geflohen und hatte in ihrer Eile einige Schriftstücke hinterlassen, die sie hoffnungslos kompromittierten. Dazu kam noch ein kleines braunes Tagebuch aus der Tasche des Toten, das ein freilich nicht ganz klares Resümee der ganzen Verschwörung enthielt.
In Mr Carters Bewusstsein freilich hatte sich unauslöschlich die Szene eingebrannt, deren Zeuge er am Abend zuvor in Soho geworden war.
Er hatte den unheimlichen Raum betreten, in dem nun der Mann, der ein ganzes Leben hindurch sein Freund gewesen war, still dalag – ein Opfer seiner selbst. Aus der Brieftasche des Toten hatte er den unheilvollen Vertragsentwurf genommen und ihn an Ort und Stelle sogleich in Flammen aufgehen lassen.