«Ich war wohl auch schon sehr argwöhnisch. Man hatte mir das Bild schon einmal abgenommen und ich war fest entschlossen, niemanden wissen zu lassen, dass ich es wieder hatte, ehe ein Fotograf Kopien davon angefertigt hatte!»
«Wir alle haben das eine oder andere für uns behalten», erklärte Tuppence nachdenklich. «Die Arbeit für einen Geheimdienst bringt das wohl so mit sich.»
In der Pause, die folgte, holte Mr Carter ein kleines, schäbiges braunes Buch aus seiner Tasche.
«Beresford hat vorhin gesagt, ich hätte Sir James Peel Edgerton nicht für den Schuldigen gehalten, falls er nicht sozusagen bei frischer Tat ertappt würde. Das stimmt. Tatsächlich habe ich erst dann wirklich geglaubt, dass alles auf Wahrheit beruhte, als ich die Eintragungen in diesem kleinen Buch gelesen hatte. Dieses Buch wird in den Besitz von Scotland Yard übergehen und der Öffentlichkeit nicht zugänglich sein. Ihnen aber, die Sie die Wahrheit kennen, möchte ich jetzt einige Abschnitte aus diesem Tagebuch vorlesen, die ein gewisses Licht auf die außergewöhnliche Mentalität dieses Mannes werfen.» Er schlug das Buch auf und blätterte in seinen dünnen Seiten.
«… Es ist Wahnsinn, dieses Tagebuch zu führen. Ich weiß es. Es enthält das Beweismaterial gegen mich. Ich bin aber niemals davor zurückgeschreckt, etwas zu wagen. Und ich habe das dringende Bedürfnis, meinen Gedanken Ausdruck zu geben… Schon in früher Jugend wurde mir klar, dass ich über ungewöhnliche Fähigkeiten verfügte. Nur ein Narr unterschätzt seine Begabung. Meine Intelligenz war der des Durchschnitts weit überlegen. Ich wusste, dass ich zum Erfolg geboren war. Meine Erscheinung war das Einzige, was gegen mich sprach. Ich war still und wirkte unbedeutend – völlig alltäglich…
Als Junge wohnte ich einmal einem Mordprozess bei. Ich war von der Beredsamkeit und der mitreißenden Kraft des Verteidigers sehr beeindruckt. Zum ersten Mal kam mir da der Gedanke, meine Fähigkeiten auf diesem besonderen Gebiet zur Entfaltung zu bringen… Dann betrachtete ich den Verbrecher auf der Anklagebank: Der Mann war ein Dummkopf. Ich empfand für ihn tiefe Verachtung. Es waren die Gescheiterten, das Strandgut der Zivilisation, die zum Verbrechen getrieben wurden… Seltsam, dass intelligente Männer diese ungewöhnlichen Möglichkeiten offenbar niemals erkannt hatten. Was für ein großartiges Betätigungsfeld: Welch unbegrenzte Möglichkeiten! Ich war wie berauscht…
Angenommen, dass meine außerordentlichen Fähigkeiten tatsächlich erkannt würden – dass ich als Anwalt bei höchsten Gerichten berufen würde… Angenommen, dass ich mich politisch betätigte und eines Tages, sagen wir, vielleicht sogar Premierminister würde… Was dann? War das ein wirklich großes Ziel? War das Macht? Überall eingeengt und von dem demokratischen System, dessen Exponent ich dann sein würde, gefesselt? Nein – die Macht, von der ich träumte, war absolut. Die Diktatur! Eine solche Macht aber ließ sich nur außerhalb der Gesetze erringen. Man musste die Schwäche der menschlichen Natur ausnutzen… Man musste eine schlagkräftige Organisation schaffen, um schließlich die bestehende Ordnung umzustoßen und zu herrschen!
Ich sah, dass ich ein Doppelleben führen musste. Ich musste eine erfolgreiche Karriere machen, hinter der ich meine eigentliche Tätigkeit verbergen konnte. Auch musste ich mich zu einer bestimmten, fest umrissenen Persönlichkeit entwickeln. So nahm ich mir berühmte Kronanwälte zum Vorbild, ahmte ihre Gewohnheiten nach, studierte das Wesen ihrer Anziehungskraft. Wäre ich zur Bühne gegangen, so wäre ich wohl der größte Schauspieler der Welt geworden. Keine Verkleidung, keine Schminke, kein falscher Bart. Nur die Verwandlung in eine andere Persönlichkeit. Ich schlüpfte in sie hinein wie in eine neue Haut. Warf ich sie ab, war ich wieder ich selber: still, unauffällig, ein Mann wie jeder andere auch. Ich nannte mich Mr Brown. Es gibt tausende dieses Namens, es gibt tausende, die genauso aussehen wie ich…
In meinem offiziellen Beruf hatte ich Erfolg. Er konnte gar nicht ausbleiben. Ich werde auch in dem anderen Erfolg haben. Ein Mann wie ich kann ganz einfach nicht versagen…
Ich habe eine Biographie über Napoleon gelesen. Er und ich haben vieles gemeinsam…
Ich spezialisiere mich darauf, Verbrecher zu verteidigen. Ein Mann sollte sich um seinesgleichen kümmern…
Ein- oder zweimal hatte ich Angst. Das erste Mal in Italien. Eine Einladung zum Abendessen. Professor D. der berühmte Nervenarzt, war anwesend. Das Gespräch wandte sich den Geisteskrankheiten zu. Er sagte: ‹Sehr viele große Männer sind irre und niemand weiß es. Sie wissen es ja selber nicht.› Ich verstehe nicht, warum er mich dabei ansah. Es war ein seltsamer Blick. Er gefiel mir nicht…
Es geht alles nach meinen Wünschen. Ein Mädchen ist hereingeplatzt; ich glaube nicht, dass es wirklich etwas weiß. Wir müssen jedoch die ‹Estnische Glaswaren-Gesellschaft› aufgeben. Jetzt darf man nichts aufs Spiel setzen…
Alles geht gut. Der Verlust des Gedächtnisses ist störend. Es kann sich dabei nicht um Simulieren handeln. Kein Mädchen könnte mich täuschen!
Der Neunundzwanzigste… Das ist sehr bald…» Mr Carter hielt inne. «Ich will nicht auf die Einzelheiten des geplanten Staatsstreichs eingehen. Aber hier sind noch zwei kleine Eintragungen, die sich auf Sie drei beziehen. In Anbetracht der Ereignisse sind sie interessant: Indem ich das Mädchen dazu veranlasste, von sich aus zu mir zu kommen, ist es mir gelungen, sie unschädlich zu machen. Sie hat jedoch intuitive Eingebungen, die gefährlich werden könnten. Man wird sie aus dem Weg räumen müssen. Mit dem Amerikaner kann ich nichts anfangen. Er ist misstrauisch und kann mich nicht leiden. Aber er kann nichts wissen. Meine Tarnung ist völlig undurchsichtig. Manchmal fürchte ich, dass ich den anderen jungen Mann unterschätzt habe. Es ist schwierig, ihm Tatsachen zu verheimlichen. Er sieht alles…» Mr Carter schlug das Buch zu. «Was für ein Mann. Genie oder Wahnsinn, wer vermag das zu entscheiden?»
Es folgte ein Schweigen.
Dann erhob sich Mr Carter. «Ich möchte mein Glas erheben – auf die Jungen Abenteurer, deren Erfolg sie so glänzend gerechtfertigt hat!»
Unter großem Beifall stießen alle an.
«Aber wir möchten noch etwas anderes hören», fuhr Mr Carter fort. Er sah den amerikanischen Botschafter an. «Ich spreche, wie ich weiß, auch für Sie. Wir möchten Miss Jane Finn bitten, uns ihre Geschichte zu erzählen, die bis jetzt nur Miss Tuppence gehört hat – zuvor aber wollen wir auch auf ihre Gesundheit trinken. Auf die Gesundheit einer tapferen jungen Amerikanerin, der unser aller Anerkennung und Dank gebührt!»
27
«Das war ein großartiger Trinkspruch, Jane», sagte Mr Hersheimer, als er und seine Kusine im Rolls-Royce zum Ritz zurückfuhren.
«Der auf die Jungen Abenteurer?»
«Nein, der auf dich. Es gibt kein anderes Mädchen auf der Welt, das diese Gefahren so durchgestanden hätte wie du. Du warst einfach wundervoll!»
«Ich fühle mich ganz und gar nicht wundervoll. Ich bin nur müde und einsam – und sehne mich nach Hause.»
«Das erinnert mich an etwas, worüber ich noch mit dir reden wollte. Ich hörte, wie der Botschafter zu dir sagte, seine Frau hoffe, du würdest zu ihnen in die Botschaft ziehen. Das ist ja alles schön und gut, aber ich habe ganz andere Pläne. Jane, ich möchte, dass du mich heiratest. Du kannst mich natürlich nicht ohne weiteres lieben. Das sehe ich ein. Aber ich habe dich von dem Augenblick an geliebt, an dem ich dein Bild gesehen habe – und nun, da ich dich kenne, bin ich völlig hingerissen von dir! Du kannst dir mit deiner Antwort Zeit lassen. Vielleicht wirst du mich niemals lieben können – und wenn das der Fall ist, werde ich dich freigeben. Aber ich behalte mir auch dann das Recht vor, auf dich zu achten und für dich zu sorgen.»
«Das ist es ja gerade, was ich möchte», antwortete das Mädchen. «Ich suche einen Menschen, der gut zu mir ist. Ach, du weißt ja nicht, wie einsam ich mich fühle.»