Wenn das so war – wo war dann das Mädchen und was hatte sie mit den Papieren getan? Nach späteren Mitteilungen aus Amerika war so gut wie sicher, dass man Danvers auf der Überfahrt beschattet hatte. Stand das Mädchen in Verbindung mit dem Feind? Oder war es seinerseits beschattet worden und hatte man es durch List oder Gewalt dahin gebracht, das Päckchen auszuliefern?
Wir machten uns an die Arbeit, sie aufzuspüren. Es erwies sich als ungewöhnlich schwierig. Ihr Name war Jane Finn und dieser Name erschien auch auf der Liste der Überlebenden. Aber das Mädchen war wie vom Erdboden verschluckt. Die Nachforschungen nach ihren Eltern halfen uns wenig. Sie war eine Waise und hatte in einem kleinen Nest im Westen als Hilfslehrerin gearbeitet. Sie wollte nach Paris, zum Dienst in einem Lazarett. Sie hatte sich freiwillig gemeldet und nach einigem Hin und Her hatte man sie angenommen. Nachdem die Leitung des Lazaretts ihren Namen auf der Liste der Überlebenden gelesen hatte, wunderte man sich, dass sie nicht erschien, um ihre Stelle anzutreten, und auch nichts von sich hören ließ.
Man hat keine Mühe gescheut, das Mädchen zu finden. Aber es war alles umsonst. Wir verfolgten ihre Spur noch durch Irland, doch es war nichts mehr ausfindig zu machen, seit sie ihren Fuß auf englischen Boden gesetzt hatte. Der Vertrag wurde in keiner Weise benutzt, was ja leicht hätte geschehen können, und so lag der Schluss nahe, dass Danvers ihn doch wohl vernichtet hatte. Der Krieg trat in eine neue Phase ein, die diplomatischen Beziehungen änderten sich, und der Vertrag wurde niemals mehr von neuem aufgesetzt. Jane Finns Verschwinden geriet in Vergessenheit.»
Mr Carter hielt inne und Tuppence warf ungeduldig ein: «Warum ist denn jetzt alles wieder aufgewirbelt worden? Der Krieg ist doch vorbei.»
Mr Carters Reaktion verriet eine gewisse Unruhe. «Es sieht nun wieder so aus, als wären diese Papiere doch nicht vernichtet worden. Sie könnten heute wieder ins Spiel geworfen werden und hätten dann eine neue, gefährliche Wirkung.»
Tuppence sah ihn aufmerksam an. Mr Carter nickte.
«Ja, vor fünf Jahren war dieser Vertragsentwurf eine Waffe in unseren Händen. Heute ist er eine Waffe gegen uns. Es handelt sich dabei um einen gewaltigen politischen Missgriff, der für uns katastrophale Auswirkungen haben könnte, falls sein Inhalt bekannt würde. In letzter Konsequenz könnte das fast zu einem Krieg führen – dieses Mal nicht mit Deutschland. Nun, daran glaube ich zwar nicht im Ernst, aber die Sache belastet zweifellos eine Reihe unserer Politiker, die wir im gegenwärtigen Zeitpunkt unmöglich in dieser Weise diskreditiert sehen können. Und als Wahlparole für die Opposition wäre es unwiderstehlich. Doch ein Regierungswechsel bei den augenblicklichen Schwierigkeiten wäre für den britischen Handel von großem Nachteil. Dies alles bedeutet jedoch nichts gegenüber der wirklichen Gefahr.» Er machte eine Pause und sagte dann ruhig: «Sie haben vielleicht davon gehört, dass hinter den gegenwärtigen Schwierigkeiten bolschewistische Einflüsse zu suchen sind?»
Tuppence nickte.
«Und das stimmt tatsächlich. Bolschewistisches Gold strömt zur Zeit für ganz besondere Zwecke in dieses Land. Und da gibt es einen Mann, sein Name ist uns nicht bekannt, der im Dunkeln seine eigenen Ziele verfolgt. Die Bolschewisten stehen bis zu einem gewissen Grade hinter den Schwierigkeiten, aber hinter den Bolschewisten steht dieser Mann. Wer ist er? Wir wissen es nicht. Man nennt ihn nichts sagend Mr Brown. Aber eines steht fest: Er ist ein Meisterverbrecher. Er beherrscht eine exakt funktionierende Organisation. Was er zu erreichen sucht, wissen wir nicht, vielleicht die höchste Macht im Staat. Wir haben nicht die geringsten Anhaltspunkte, wer er sein könnte. Sogar seine eigenen Anhänger sollen keine Ahnung haben. Manchmal sind wir auf seine Spur gestoßen, aber da schob er dann immer geschickt einen anderen vor. Mr Brown ist uns bis jetzt stets entwischt.»
«Ach!» Tuppence fuhr hoch. «Ich frage mich…»
«Bitte?»
«Jetzt entsinne ich mich, dass Mr Whittington in seinem Büro seinen Angestellten stets mit Brown anredete. Aber Sie glauben doch nicht etwa –?»
«Möglich ist alles. Sonderbarerweise tauchte der Name Brown in diesem Zusammenhang tatsächlich immer wieder auf. Können Sie ihn beschreiben?»
«Er hat sich mir nicht eingeprägt. Er war so alltäglich.»
Mr Carter seufzte. «Genauso wird Mr Brown immer beschrieben! Hat diesem Whittington einen Zettel über eine telefonische Mitteilung hingelegt, nicht wahr? Haben Sie im ersten Büro ein Telefon bemerkt?»
Tuppence dachte nach. «Nein, ich glaube nicht.»
«Vielleicht war diese ‹telefonische Mitteilung› nichts anderes als ein Befehl Mr Browns an seinen Untergebenen. Selbstverständlich hatte er Ihr Gespräch mit angehört. Hat Ihnen Whittington nicht gleich danach das Geld ausgezahlt und Ihnen gesagt, Sie sollten am nächsten Tag wiederkommen?»
Tuppence nickte.
«Ja, das sieht fast nach Mr Brown aus.» Mr Carter machte eine Pause. «Sie sehen also, in was Sie sich da einlassen wollen. Wahrscheinlich ist er die größte Verbrecherintelligenz unserer Zeit. Und deshalb gefällt mir die Sache nicht ganz. Es täte mir Leid, wenn Sie in Gefahr gerieten.»
«Mir passiert nichts», behauptete Tuppence zuversichtlich.
«Ich werde schon auf sie aufpassen, Sir!», rief Tommy.
«Dafür passe ich dann auf dich auf», erwiderte Tuppence, der diese männliche Überheblichkeit missfiel.
«Passen Sie nur gegenseitig aufeinander auf», sagte Mr Carter und lächelte. «Aber nun zurück zu unserer Aufgabe. Um diesen Vertragsentwurf hat es immer Rätsel gegeben – die wir bisher nicht lösen konnten. Man hat uns ganz unmissverständlich damit gedroht. Von Seiten unserer Gegner ist behauptet worden, er befände sich in ihrer Hand und sie würden ihn zum gegebenen Augenblick veröffentlichen. Andererseits sind sie sich offensichtlich über manche seiner Punkte keineswegs im Klaren. Die Regierung betrachtet das Ganze als Bluff und hat einfach alles abgestritten – ob mit Recht oder nicht, dessen bin ich nicht sicher. Es hat immer wieder Andeutungen und Hinweise gegeben, dass hier eine Gefahr bestehe. Das ist so, als ob jemand ein belastendes Dokument in Händen hat, das er aber nicht lesen kann, weil es in Geheimschrift abgefasst ist. Aber der Entwurf ist durchaus nicht in Geheimschrift abgefasst. Das war nach Lage der Dinge gar nicht möglich. Hier ist also vieles unklar. Und noch etwas anderes ist seltsam. Natürlich könnte Jane Finn tot sein – denn was wissen wir schon von ihr? Aber ist es nicht merkwürdig, dass sie versuchen, von uns Informationen über sie zu erlangen?»
«Wie ist das möglich?»
«Ja, das sind ein paar Kleinigkeiten, die zu denken geben. Und Ihre Geschichte bestärkt mich in meiner Vorstellung. Die anderen wissen, dass wir Jane Finn suchen. Nun, sie werden also ihre eigene Jane Finn auf die Beine stellen – sagen wir mal in einem Pensionat in Paris.» Tuppence verschlug es den Atem. Mr Carter lächelte. «Niemand ahnt ja auch nur, wie sie aussieht, da kann also nichts passieren. Ihr wird irgendeine Geschichte eingetrichtert, die sie uns zu servieren hat, ihre eigentliche Aufgabe aber besteht darin, so viel Informationen wie nur möglich aus uns herauszuholen. Sehen Sie jetzt, worum es geht?»
«Dann glauben Sie also…» – Tuppence hielt inne, um sich diese Möglichkeit ganz klar zu vergegenwärtigen –, «dass sie mich als Jane Finn nach Paris schicken wollten?»
Mr Carter lächelte noch müder als sonst. «Ich glaube an ein Zusammentreffen verschiedener Zufälle», sagte er.