Ein kalter Wind, der von den Bergen kam und nach dem Schnee des nahen Winters roch, strich über den kleinen Friedhof, der auf einem Hügel am Ostrand des Städtchens Hoodsville lag. Er rupfte das letzte Laub von den Bäumen und wirbelte es so fröhlich herum, daß es angesichts dieses Ortes fast ungehörig wirkte.
Der einzige Besucher zu dieser frühen Morgenstunde stand vor einem einsamen Grab, weit abseits der anderen Begräbnisstätten, und war so in Gedanken versunken, daß er die eisige Schärfe, die in sein Gesicht biß, nicht bemerkte. Es war ein trostloses Grab, das nur aus einer Erdaufschüttung und einem schlichten, aus Brettern zusammengenagelten Holzkreuz bestand. Man merkte, daß es den Leuten nur darum gegangen war, den Toten und die Erinnerung an ihn möglichst rasch zu begraben. Der hagere, ganz in Schwarz gekleidete Mann schwor sich, daß ihnen das noch leid tun sollte. Sie würden noch bereuen, den Mann, der hier begraben lag, umgebracht zu haben.
*
»Vorwärts jetzt, schiebt!« rief Jacob Adler und zog gleichzeitig an den beiden Seilen, die um den schweren Baumstamm gebunden waren.
Unter ihm schoben Noah Koontz, Sam Kelley und dessen Schwager Jackson Harris den letzten der behauenen und zurechtgeschnittenen Stämme auf die beiden Balken.
Über ihnen standen Jacob, sein Freund Martin Bauer und der junge Halbindianer Billy Calhoun auf den Querbalken des neuen Blockhauses, das mit Ausnahme des Daches so gut wie fertig war. Nur dieser letzte Baumstamm mußte noch in die Wand eingefügt werden. Die beiden Deutschen und das Halbblut zogen mit gleichmäßigen Bewegungen an den Seilen und holten den Baumstamm über die vom Boden schräg nach oben führenden Gleitbalken hoch.
Als der Baumstamm oben war, bereitete es Jacob, Martin und Billy nur wenig Mühe, ihn in die Wand einzufügen. Jacob hatte das Zimmermannshandwerk bei seinem Vater und später, auf seiner dreijährigen Wanderschaft durch Preußen, bei vielen anderen Meistern gelernt und beherrschte es gut. Er hatte auf einen genauen Zuschnitt der Kerben in den Stämmen geachtet, damit sie sich fest ineinanderfügten und auch ohne Nägel zusammenhielten. Nägel waren Mangelware in diesem Teil Oregons und wurden nur eingesetzt, wo es unbedingt nötig war.
Jubel brandete unten auf, als auch dieser letzte Stamm eingefügt war. Die Auswanderer, die zum Bau der Hütte aus dem ganzen Tal zusammengekommen waren, warfen ihre Hüte und Mützen in die Luft und klopften Noah Koontz auf die Schultern.
Stolz blickte der dunkelhäutige Farmer, dessen Heim dieses Haus werden sollte, auf die festen Wände, die Wind und Regen, Hagel und Schnee von seiner Familie fernhalten sollten. Noch wohnten er, seine Frau und die fünf Kinder in dem durch ein angebautes Zelt erweiterten Planwagen, in dem sie die 2000 Meilen weite Reise auf dem Oregon Trail bewältigt hatten. In den vielen Monaten war der Prärieschoner für sie so etwas wie ein Heim geworden. Aber nun, wo der Winter nicht mehr fern war, freuten sie sich doch auf ihr Haus.
Auch Jacob spürte das Herannahen des Winters, als er oben auf den Baumstämmen kniete und sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß aus der Stirn wischte. Der Tag war für ihn mit harter Arbeit angefüllt gewesen, und er schwitzte. Doch zugleich fror er, als er den immer wieder auffrischenden Eiswind spürte, der von den Bergen kam. Jacob roch förmlich den Schnee, der bald auf Abners Hope, wie die Auswanderer ihre Siedlung genannt hatten, fallen würde.
Der junge Deutsche war sich sicher, daß er sich nicht täuschte. Er hatte eine Nase dafür. Wie damals, als er den überraschenden Wintereinbruch in den Rocky Mountains schon vorher gespürt hatte.
Zum Glück war der Schnee, der im Felsengebirge fiel, nach ein paar Tagen wieder geschmolzen, so daß der Treck, der sich in das von einem geheimnisvollen Indianervolk bewohnte Tal der heißen Wasser geflüchtet hatte, seine Reise fortsetzen konnte. Den Winter im Nacken und den Hungertod vor Augen, den ein Einschneien in den Bergen zur Folge haben würde, holten die Auswanderer das Letzte aus sich und ihren Zugtieren heraus. Und sie schafften es, die Rockies hinter sich zu bringen, ehe der Winter sich endgültig zwischen den schroffen Gebirgen niederließ.
Inzwischen mußte überall dort oben Schnee liegen. Und bald würde er auch in dem fruchtbaren Tal fallen, in dem die Auswanderer ihre neue Heimat, ihr Gelobtes Land, wie es Abner Zachary genannt hatte, gefunden hatten.
Zu Ehren des alten Predigers und Treck-Captains, der am Rand des Oregon Trails in den Bergen begraben lag, hatten die Siedler ihre Niederlassung Abners Hope getauft - Abners Hoffnung. Seine Hoffnung war es gewesen, in Oregon eine Stadt zu gründen, in der Menschen jeder Hautfarbe und jeder Religion im friedlichen Einvernehmen und in Freiheit zusammenlebten. Der alte Zachary und die Menschen, die ihn auf der langen, gefahrvollen Reise begleiteten, hatten genug von der in vielen Staaten Nordamerikas erlaubten Sklaverei.
Zwar tobte derzeit ein blutiger Krieg zwischen den Nord-und Südstaaten, in dem auch um die Aufhebung der Sklaverei gefochten wurde. Aber dieses Ziel lag noch in weiter Ferne. Noch war selbst in einigen Staaten des Nordens die Sklaverei erlaubt. Und Präsident Abraham Lincolns Proklamation zur Sklavenbefreiung betraf nur die feindlichen Südstaaten. Lincoln hatte so handeln müssen, um die Verbündeten nicht zu verprellen.
Jacob hoffte, daß sich der Traum des Predigers - der Traum dieser Menschen hier - erfüllte. Er hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um dazu beizutragen. Nach Zacharys Tod hatte Jacob als neuer Captain den Treck geführt.
Hart hatte ihn der Verlust der sieben Wagen getroffen, die im Geistercanyon unter einer Steinlawine begraben lagen. Und mit ihnen sieben Auswandererfamilien. Sie hatten nicht länger unter Jacobs Führung auf dem Oregon Trail fahren wollen, sondern hatten sich vom übrigen Treck getrennt, um den California Trail zu nehmen. Die Berichte von großen Goldfunden in Kalifornien hatten ihnen den Kopf verdreht -und sie ins Verderben geführt.
Aber die anderen Auswanderer, die ihr Leben Jacob anvertrauten, hatte er durchgebracht, ohne auch nur einen Wagen und - was weit wichtiger war - ein Menschenleben zu verlieren. Dreißig Wagen waren vor knapp einem halben Jahr von Kansas City nach Oregon aufgebrochen. Zweiundzwanzig hatten das Ziel erreicht.
Jacob hatte auch das andere Versprechen gehalten, das er Abner Zachary gegeben hatte. Der Zimmermann hatte den Siedlern beim Bau ihrer Häuser tatkräftig zur Seite gestanden. Und es hatte ihm Spaß gemacht, nach vielen Monaten endlich wieder seinen Beruf auszuüben.
Gleichzeitig hatte es ihn schmerzlich daran erinnert, daß sein eigentliches Ziel noch weit entfernt lag. Er wollte nach Texas, um seinen Vater zu suchen, den Zimmermannsmeister Heinrich Adler. Vater und Geschwister lebten vermutlich auf der Plantage von Jacobs Onkel Nathan Berger. Und selbst diese Aufgabe konnte er erst in Angriff nehmen, wenn er Carl Dilger gefunden hatte.
Sein Blick wanderte nach unten, wo die Frauen unter einem großen Zeltdach das Festmahl zubereiteten, das es zur Feier der Hauserrichtung geben sollte. Irene Sommer rührte in einem großen dampfenden Kessel herum und behielt dabei ihren kleinen Sohn Jamie im Auge, der friedlich in einem mit warmen, weichen Decken ausgeschlagenen Korb schlief.
Jacob empfand für die beiden fast wie für seine eigene Frau und sein eigenes Kind. Aber er beherrschte seine Gefühle. Es durfte nicht sein. Carl Dilger war Jamies Vater und der Mann, den Irene heiraten wollte. Sie war nach Amerika ausgewandert, um zu ihm zu gelangen. Und Jacob wollte sicherstellen, daß dies gelang.
Auch wenn es ihn schmerzte.
Er tat es für Irene und das Kind.
Allerdings fragte er sich immer wieder, wie sie Dilger finden sollten. Unterwegs hatten sie stets ein klares Ziel vor Augen gehabt: Oregon. Aber jetzt, wo sie das fruchtbare Land am Pazifik erreicht hatten, schien ihm die Aufgabe, Dilger zu finden, auf einmal übergroß.
Sie wußten aus dem Brief, den Dilger in New York für Irene deponiert hatte, nur, daß er nach Oregon wollte. Aber was nutzte das? Das weite Amerika war ganz anders als das kleine enge Europa. Jacob und Irene konnten ihr ganzes Leben lang durch Oregon streifen, ohne den Gesuchten zu finden, der sich vielleicht im nächsten Tal aufhielt.