Der Schneefall wurde zum Glück nicht stärker. Als die Reisenden bei Beginn der Abenddämmerung Hoodsville erreichten, lag nur eine dünne weiße Decke über dem Land und der Stadt, die - Abners Hope ähnlich - in einem fruchtbaren Tal am Rande der gewaltigen Cascade Range lag.
Erst kamen sie an verstreut liegenden Farmen vorbei. Die Bebauung wurde dichter und wuchs sich zur Stadt aus. Man sah auf den ersten Blick, daß Hoodsville auf eine längere Geschichte zurückblicken konnte als Abners Hope. Die primitiven Blockhütten, die hier einst gestanden hatten, waren zum größten Teil komfortableren Holzhäusern gewichen. Die meisten Gebäude - insgesamt mochten es an die fünfzig sein -besaßen sogar Fenster mit richtigen Glasscheiben.
Der Reverend führte sie zum Mietstall am anderen Ende der Stadt. Ein großes, schon etwas verwittertes Schild über dem Holztor verkündete: >Eric Hood - Blacksmith & Stablec.
»Hood scheint hier ein häufiger Name zu sein«, bemerkte Jacob, als er langsam vom Bock kletterte. Sie waren bis auf eine kurze Mittagsrast den ganzen Tag unterwegs gewesen, und er spürte jeden Knochen im Leib.
»Eine große Familie«, sagte Driscoll und stieg aus dem Sattel. »Soviel ich weiß, haben die Hoods diese Stadt vor zehn, zwölf Jahren gegründet.«
Eric Hood war ein großer breitschultriger Mittvierziger mit hellem, schütterem Haar und einem rotblonden Schnauzbart, dessen Enden nach oben gezwirbelt waren. Jacob hatte gerade das Tor aufgezogen, als er ihnen aus dem Innern des Mietstalls entgegentrat. Sowie er den Reverend sah, leuchteten seine blauen Augen auf, und er begrüßte Driscoll mit einem kräftigen Handschlag.
»Freut mich, daß Sie den Weg zurück nach Hoodsville gefunden haben, Reverend«, sagte er mit polternder Stimme und strahlendem Gesicht. »Vielleicht können wir Sie doch noch überreden, eine Kirche in unserer schönen Stadt zu bauen.«
»Genau das ist meine Absicht, Mr. Hood.«
Driscoll stellte seine Begleiter vor, und sie brachten Pferde und Wagen im Stall unter.
»Bekommt man in Mrs. Flys Pension noch immer so gutes Essen?« fragte der Reverend halb scherzhaft.
Als Hood dies bejahte, empfahl Driscoll die Pension den beiden Deutschen. Er selbst hatte dort schon gewohnt und wollte erneut bei der Witwe Fly um Unterkunft bitten.
Mrs. Flys zweistöckiges Haus lag am Stadtrand. Es waren genug Zimmer frei. Zur Zeit wohnte bei der fünfzigjährigen, drallen Witwe außer den Neuankömmlingen nur ein junges Ehepaar aus dem Osten, das auf der Durchreise nach Oregon City war.
Das Abendessen war wirklich sehr gut, aber Irene stocherte nur lustlos darin herum. Jacob verstand das sehr gut. Die Nähe von Carl Dilgers Grab ließ die junge Frau zusehends nervöser werden.
Driscoll versprach, Irene und Jacob am nächsten Morgen auf den Friedhof zu führen. Die beiden Deutschen zogen sich früh auf ihre Zimmer zurück, während der Reverend noch ausging.
»Ich muß ein paar Kontakte knüpfen, um den Bau meiner Kirche anzuleiern«, erklärte er.
In der Nacht hörte Jacob aus dem Nebenzimmer laute Rufe. Es war Irene, die im Schlaf Carls Namen ausstieß, immer wieder. Sie mußte schlimme Alpträume haben.
Am liebsten wäre er aufgestanden, zu ihr geeilt und hätte sie in seine Arme genommen, um sie zu trösten.
Aber wie konnte er das?
*
Am Morgen, als Jacob Irene im Speisesaal beim Frühstück traf, war er überrascht, wie gefaßt sie wirkte. Vielleicht hatten die nächtlichen Träume einen reinigenden Effekt gehabt. Jedenfalls waren ihr weder Verzweiflung noch Trauer anzumerken. Auch der Reverend erschien bald zum Frühstück. Als das junge Ehepaar den Speisesaal betrat, waren die drei anderen bereits fertig und zogen sich an, um zum Friedhof zu gehen.
Der Schnee war höher geworden und reichte den Menschen jetzt weit über die Knöchel, als sie über die Main Street von Hoodsville zum nördlichen Stadtende gingen, vorbei an dem Mietstall. Der kalte Wind aus den Bergen wehte ihnen dicke Schneeflocken ins Gesicht.
Der Friedhof lag auf einem bewaldeten Hügel eine knappe halbe Meile hinter der Stadt. Die drei waren die einzigen Menschen, die sich zu dieser frühen Stunde hier aufhielten.
Driscoll führte sie zielstrebig zwischen den Gräbern hindurch.
»Sie scheinen sich hier gut auszukennen, Reverend«, bemerkte Jacob.
»Bevor ich nach Abners Hope aufbrach, um Miß Sommer von Mr. Dilgers Tod zu benachrichtigen, habe ich mir natürlich das Grab angesehen.«
Über dem Grab, zu dem er sie führte, erhob sich ein schlichtes Holzkreuz, ähnlich dem, das Jacob für Billy Calhouns letzte Ruhestätte angefertigt hatte. Das Kreuz war, wie das Grab selbst auch, von Schnee bedeckt.
»Hier ist es?« fragte Irene zögernd, als Driscoll stehenblieb.
Der Reverend nickte. »Ja, Miß Sommer.«
Eine ganze Weile standen sie schweigend, mit gesenkten Häuptern, vor dem Grab. Dann trat Irene an das Kreuz und wischte langsam den Schnee mit ihren behandschuhten Händen von dem Holz.
Die Aufschrift, die sie enthüllte, war fast enttäuschend knapp:
Carl Dilger aus Hamburg (Germany)
Erschossen in Hoodsville (Oregon) am 8. Juli 1863
»Ist er das?« fragte Driscoll.
»Ja«, antwortete Irene mit brüchiger Stimme. »Carl kam aus Hamburg. Sein Vater besitzt dort eine Reederei.« Sie wollte noch etwas sagen, aber ihre Stimme versagte. Sie sammelte sich und fuhr fort: »Carl, wurde erschossen. Wer hat das getan?«
»Ein gewisser Randolph Haggard. Er liegt auch hier begraben. Wollen Sie das Grab sehen?«
Irene nickte.
Das Grab, zu dem sie der Reverend jetzt führte, lag abseits der anderen Begräbnisstätten. Auch über ihm erhob sich nur ein schlichtes Kreuz aus Brettern, das Driscoll vom Schnee befreite.
Randolph Haggard (gest. am 8. Juli 1863
Der Herr möge ihm gnädig sein
»Am selben Tag gestorben«, murmelte Irene.
»Durch Dilgers Kugel«, erklärte der Reverend. »Man hat mir gestern abend erzählt, sie hätten sich gegenseitig erschossen.«
Irene sah ihn fragend an. »Warum?«
»Ein Streit.« Driscoll zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nichts Genaues. Nur, daß Haggard in die Stadt kam und einen Streit mit Dilger vom Zaun brach, dem beide zum Opfer fielen.«
Irene schüttelte den Kopf und sagte leise: »Ich kann mir das nicht vorstellen. Carl war im Umgang mit Schußwaffen nicht sehr erfahren.«
»Hier im Westen lernt man das schnell«, sagte der Reverend und klopfte auf das Lederholster mit seinem Webley Longspur. »Besonders, wenn es um das eigene Leben geht.«
»Dieser Haggard scheint jedenfalls an der Sache schuld gewesen zu sein«, meinte Jacob. »Die Worte >Der Herr möge seiner Seele gnädig sein< deuten es an.«
»So hat man es mir auch erzählt«, bestätigte der Reverend.
»Von wem können wir Genaueres erfahren?« erkundigte sich Irene.
»Vielleicht vom Bürgermeister, Wallace Hood«, sagte Driscoll.
»Mit Eric Hood verwandt?« fragte Jacob.
»Sein Bruder, glaube ich.«
»Ich möchte noch einmal zu Carls Grab«, sagte Irene und stapfte auch schon durch den Schnee zurück.
Jacob und der Reverend standen eine ganze Weile vor Haggards Grab und sahen den Hügel hinauf zu Irene, die mit gesenktem Haupt neben dem Holzkreuz stand und auf die Begräbnisstätte ihres Geliebten schaute.
Schließlich ging Jacob zu ihr und legte sanft einen Arm um ihre Schultern. Er wollte sie wissen lassen, daß sie nicht allein war.
Irene hob den Kopf und sah ihn dankbar an. Über ihr Gesicht liefen Tränen.
*
Auf ihrem Rückweg in die Stadt mußten sie sich gegen den kräftig auffrischenden Wind regelrecht anstemmen.
Driscoll führte sie zu einem der größten Gebäude in der Mitte der Main Street, über dem ein Schild mit der Aufschrift >Wallace Hood - General Store< prangte.