Auch Irene schien das immer stärker zu erkennen, und Jacob begann sich Sorgen um sie zu machen. Wann immer ein Fremder nach Abners Hope kam, bestürmte ihn Irene sofort mit der Frage nach Dilger. Aber bislang hatte sie niemanden getroffen, der auch nur von ihm gehört hatte. Jedesmal verwand sie die enttäuschende Auskunft schwerer. Vor wenigen Tagen erst, als ein fahrender Händler mit seinem Wagen durch das Tal gekommen war, hatte die junge Frau fast einen Zusammenbruch erlitten, als auch der weitgereiste Mann nichts von Dilger wußte. Er hatte, bevor er weiter nach Norden gefahren war, Irene versprochen, sich wegen Dilger umzuhören.
Auch Jacob hatte Irene ein Versprechen gegeben, um sie ein wenig aufzurichten. Er wollte selbst losziehen und versuchen, etwas über Dilger in Erfahrung zu bringen. Er wußte allerdings noch nicht, wie er das machen und wo er damit beginnen sollte.
Bald würde er es wissen müssen. Noah Koontz' Haus war das letzte, das es nach vielen Wochen harter Arbeit zu errichten galt. Die Siedler hatten bis zum Umfallen geschuftet, Land gerodet, Baumstämme gefällt und zugeschnitten. Als alles soweit war, wurde seit drei Wochen nichts anderes getan, als jeden Tag ein Haus zu bauen. In großer Zahl fanden sich die Menschen zu dieser Aufgabe zusammen.
Heute waren fast alle gekommen, um den Bau des letzten Blockhauses und damit die Fertigstellung ihrer über das ganze Tal verstreuten Siedlung bei einem Festmahl zu feiern. Natürlich war vieles an den eilends erstellten Blockhäusern noch ausbaubedürftig. Aber die Häuser würden ausreichen, um ihre Bewohner über den ersten Winter zu bringen. Oregon hatte ein verhältnismäßig mildes Klima, so daß die Siedler darauf hoffen durften, nicht völlig einzuschneien, wie es ihnen fast in den Rocky Mountains widerfahren wäre, hätte sie der Indianerhäuptling Mondauge nicht ins Tal der heißen Wasser geführt.
Die vier Wände von Noah Koontz' Haus standen gegen Mittag. Nun machte sich Jacob nach einer kleinen Rast daran, mit tatkräftiger Hilfe das Dach aus Holzsparren zu errichten, die auf unbehauene Stämme gesetzt wurden. Ein anderer Teil der Männer baute derweil den Kamin und zog den Schornstein hoch. Beides wurde aus Reisig errichtet und innen wie außen mit einer dicken Lehmschicht verschmiert.
Zwei Stunden vor Sonnenuntergang war das Haus fertig. Manch einer aus dem Osten der Vereinigten Staaten hätte vielleicht die Nase gerümpft über die aus groben Holzstämmen errichtete Behausung, die noch nicht einmal richtige Fenster hatte, weil es in Abners Hope keine Glasscheiben gab. Aber einfache, nachts und bei schlechtem Wetter verschließbare Luken taten es auch und sorgten zudem im Sommer für frische Luft. Im nächsten Winter würde Noah Koontz vielleicht schon Scheiben eingesetzt haben, sobald der Farmer mit seiner Ernte genug verdient hatte, um sich diesen Luxus leisten zu können. Von den Männern und Frauen aus Abners Hope rümpfte niemand die Nase, denn niemand besaß eine bessere Unterkunft. Ganz im Gegenteil, jeder war stolz auf sein mit eigener Hände Arbeit geschaffenes Blockhaus.
Als Jacob vom Dach kletterte, wurde er von einem dichten Menschenknäuel empfangen und in die Luft gehoben. Die Männer ließen den Zimmermann, der in den vergangenen drei Wochen so hart gearbeitet hatte wie kein anderer von ihnen, hochleben und trugen ihn dann auf ihren Schultern zu dem großen Zelt, wo er die riesige Obsttorte anschneiden sollte, die Mrs. Koontz und ihre Töchter aus eingemachten Früchten gebacken hatten. Die leckere Süßspeise fand reißenden Absatz. Dutzende von Händen streckten sich Jacob entgegen, sobald er ein neues Stück abgeschnitten hatte.
Als schon drei Viertel der Torte weg waren und Jacob sich mit einem besonders großen Stück umdrehte, sah er zu seiner Überraschung nur die Rücken der Leute. Niemand schien an dem Stück Torte interessiert zu sein. Dann erblickte er auch den Grund: fünf Fremde, die langsam auf Blockhaus und Zelt zugeritten kamen.
Es waren rauhe, bärtige, abgerissene Gestalten, denen man auf den ersten Blick ansah, daß sie lange Zeit in der Wildnis zugebracht hatten. Wo ihre Gesichter nicht von wild wucherndem Bartgestrüpp verdeckt waren, war die Haut von der Sonne tief gebräunt.
Sie waren Mountain Men. Männer, die in den Rockies auf Pelzjagd gingen. Jacob erkannte das an ihrer Kleidung, bei der Felle und Wildleder überwogen. Und an der Last ihrer Packtiere: frische Felle und Fallen.
Die Neuankömmlinge hielten ihre Pferde und Maultiere vor der Masse der Siedler an und grüßten.
»Ich habe schon gehört, daß hier eine Siedlung entstanden ist«, sagte laut ein wahrer Bär von einem Mann. »Aber ich wußte nicht, daß es so viele Leute sind. Da werden wir unsere Felle vielleicht alle los.«
Er war weit mehr als sechs Fuß groß und fast ebenso breit. Vielleicht wirkte er auch nur wegen seiner dicken Bärenfelljacke und dem voluminösen schwarzen Vollbart so wuchtig, überlegte Jacob. Jedenfalls hatte der große Braune, den er ritt, ganz schön an ihm zu tragen.
»Mit Ihren Fellen werden Sie bei uns nicht viel Glück haben, Mister«, erwiderte Sam Kelley. »Bis wir die erste Ernte eingefahren haben, sind die Dollars bei uns knapp.«
Der große Jäger sah enttäuscht aus.
»Schade. Bei meinen Freunden und mir sind die Dollars nämlich auch knapp. Die Jagd war hart und wenig ergiebig in diesem Jahr.« Er drehte sich um und zeigte auf die Packtiere. »Schließlich hatten wir doch noch einigen Erfolg. Wir hatten gehofft, bei euch etwas von unserer Ware loszuwerden.«
»Vielleicht möchten Sie trotzdem unsere Gäste sein«, bot Noah Koontz an. »Auch wenn wir nicht viel Geld haben, Essen und Trinken sind reichlich vorhanden.«
Das Gesicht des Bärtigen hellte sich auf. »Das ist ein Wort, Mister. Und ein Angebot, das wir nicht ablehnen können.«
Die fünf Fremden stiegen aus den Sätteln und waren bald von Siedlern umringt. Fremde bedeuteten Neuigkeiten und wurden deshalb mit Fragen bestürmt.
Irene bewegte sich, Jamie auf dem Arm, zielstrebig auf den großen Bärtigen zu, und Jacob folgte ihr. Er wußte, was sie den Jäger fragen würde.
»Darf ich Sie einen Augenblick stören, Mister?« erkundigte sich Irene und stellte sich vor.
Der Bärtige, der gerade das letzte Stück von Mrs. Koontz' Obsttorte mit großen Bissen verschlang, musterte die Frau mit sichtlichem Wohlgefallen und sagte: »Freut mich, Mrs. Sommer. Ich heiße Joe Haslip, aber sagen Sie ruhig Black Joe zu mir. Das tun alle.« Dabei strich er mit der linken Hand über seinen mächtigen schwarzen Bart und ließ keinen Zweifel daran, woher sein Spitzname stammte. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Miß Sommer«, korrigierte Irene, »nicht Mistress.«
»Oh, Verzeihung, das wußte ich nicht«, meinte Black Joe, doch die Neuigkeit schien ihn nicht zu betrüben, ganz im Gegenteil. Jetzt musterte er Irene noch intensiver.
»Ich suche meinen... meinen Verlobten«, fuhr Irene fort. »Vielleicht haben Sie ihn getroffen oder von ihm gehört? Er heißt Carl Dilger.«
Mehrmals fuhr Haslip überlegend durch sein Bartgestrüpp und brummte schließlich: »Dilger, der Name sagt mir überhaupt nichts. Was macht er denn? Wo soll er sich aufhalten?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Irene unsicher und sah verschämt zu Boden. »Ich weiß nur, daß er nach Oregon wollte.«
Black Joe stemmte die Hände in die Hüften, was ihn noch massiger wirken ließ, und lachte lauthals los.
»Was denken Sie denn, wie groß Oregon ist, Miß? Wenn Sie nichts Genaueres wissen, werden Sie Ihren Verlobten niemals finden. Er kann in den Wallowa Mountains sein, in den Blue Mountains, in der Cascade Range oder den Coast Ranges. Vielleicht ist er am Columbia River, am Klamath Lake, am Summer Lake, am Lake Albert oder am Malheur Lake. Oder irgendwo in den weiten Landstrichen dazwischen.« Er breitete die langen Arme aus. »Überall in diesem großen Land!«