Irene nickte.
»Ich verstehe.«
»Paß gut auf dich auf!« sagte Jacob, drückte ihr einen Kuß auf die Stirn und verließ das Zimmer.
Es gelang ihm, ein zweites Mal ungesehen an der in der Küche herumklappernden Witwe vorbeizukommen.
Die beiden Pferde standen noch im Hinterhof der Pension. Er führte sie durch Nebenstraßen zum Mietstall, wo er niemanden antraf. Die beiden Stühle, auf denen Willard Croy gesessen hatte, standen verlassen im Eingangsbereich.
Um so besser, dachte Jacob, brachte die Tiere in ihre Boxen und sattelte sie ab.
Er überlegte, ob er hier auf Eric Hood warten sollte. Nein, er wollte Irene nicht zu lange mit Rohlfing allein lassen. Außerdem würde sie sich Sorgen um ihn machen, wenn er länger wegblieb.
Also verließ er den Mietstall und tauchte wieder in den Schneesturm ein.
*
Diesmal bemerkte ihn die Witwe Fly, als er in die Pension zurückkehrte. Fast hätte sie die Pfanne mit den Bratkartoffeln fallengelassen.
»Mr. Adler!« rief sie entsetzt aus. »Ich habe Ihnen doch gerade das Frühstück hochgebracht. Sie. Sie liegen doch oben im Bett. mit Schüttelfrost.«
»Ich war nur kurz draußen, um den Frost abzuschütteln«, meinte Jacob verlegen und eilte auch schon die Treppe hinauf, sich über seine blöde Ausrede ärgernd; aber in der Eile war ihm nichts Besseres eingefallen.
Als er Irene davon erzählte, konnte sie sich ein Lachen nicht verkneifen.
Dann wurde sie wieder ernst und fragte: »Meinst du, daß die Witwe Fly uns Ärger macht?«
»Keine Ahnung«, antwortete Jacob, zog die Jacke aus und klopfte die letzten Schneereste ab. »Ich weiß nicht, wie gut sie mit dem Bürgermeister steht.«
Er stellte sich ans Fenster und sah hinaus auf die Main Street.
»Einer von uns sollte immer die Straße beobachten«, sagte er.
»Für den Fall, daß es Ärger gibt?«
»Ja. Und für den Fall, daß der Sheriff zurückkommt.«
»Und wenn er gar nicht kommt?«
Jacob runzelte die Stirn. »Wie meinst du das, Irene?«
»Vielleicht zieht er es vor, den Sturm auf der Kershaw-Farm abzuwarten.«
»Wir wollen es nicht hoffen. Menschen, die Steuern eintreiben, sind für gewöhnlich nicht sehr beliebt.«
»Du glaubst, die Kershaws werden ihn nicht auffordern, länger bei ihnen zu bleiben?«
Jacob nickte nur und beobachtete weiter die Straße. Als Irene mit ihrem Frühstück fertig war, löste sie ihn ab, und er aß.
»Was ist mit dem?« fragte Irene und zeigte auf das Bett. »Er wird auch Hunger haben.«
»Er kann auf seinem Knebel herumkauen«, antwortete Jacob gleichgültig.
In der Nacht, als Rohlfing ihn kaltblütig erschießen wollte, war in Jacob jegliches Mitgefühl für den Mann gestorben.
Als Jacob wieder die Wache am Fenster übernahm, erwachte die Stadt allmählich zum Leben. Doch auf der weißen Main Street war längst nicht soviel los wie an anderen Tagen. Nur wer etwas Unaufschiebbares zu erledigen hatte, wagte sich bei diesem Wetter hinaus.
Deshalb fielen Jacob die sechs Männer sofort auf, die auf das Haus der Witwe Fly zumarschierten. Die meisten waren mit Gewehren bewaffnet. Als er genauer hinsah, erkannte er unter ihnen Wallace Hood und zwei der Männer, gegen die er gestern in der engen Gasse gekämpft hatte: den Knochigen und den Dickbauch.
»Es geht los«, sagte Jacob düster. »Der Bürgermeister rückt mit seinen Leuten an. Und sie sehen nicht so aus, als kämen sie zu einem Plauderstündchen.«
Einer der Männer postierte sich auf dem Vorbau des gegenüberliegenden Hauses, in dem ein Barbier seinen Laden hatte. Dort ging er hinter einer Regentonne in Deckung und legte sein Gewehr auf die Pension an. Offenbar sollte er verhindern, daß jemand das Haus gegen den Willen des Bürgermeisters verließ.
»Wie sind sie uns draufgekommen?« fragte Irene. »Ob Mrs. Fly uns verraten hat?«
»Kann sein. Oder der Alte aus dem Mietstall. Jedenfalls scheinen sie zu wissen oder zumindest zu ahnen, daß etwas nicht in Ordnung ist.«
Wallace Hood und die vier anderen Männer hatten inzwischen die Pension erreicht und waren aus Jacobs Blickfeld verschwunden.
Natürlich hätte er auf die Männer schießen können, solange sie noch unten auf der Main Street waren.
Aber was hätte das gebracht?
Dann hätte sich der Bürgermeister erst recht als befugt gesehen, mit allen Mitteln gegen die beiden Deutschen vorzugehen.
Außerdem konnten es Jacob und Irene nicht mit der ganzen Stadt aufnehmen.
Sie hörten laute Stimmen unten im Haus und dann das Getrampel von Schritten auf der hölzernen Treppe.
Als die Männer das Obergeschoß erreichten, hatte Jacob die Tür verschlossen und die schwere Eichenholzkommode davorgezerrt. Er legte den Tisch auf die Kante, um mit Irene dahinter in Deckung zu gehen.
Die Tür des Nebenzimmers wurde aufgestoßen. Es war das Zimmer des Reverends. Dann kamen Irenes und Jacobs Zimmer an die Reihe.
»Hier sind sie!« rief eine Männerstimme vor Jacobs Tür.
»Reverend Driscoll!« sagte Wallace Hood laut. »Sind Sie da drin?«
»Der Reverend ist tot«, antwortete Jacob.
»Tot?« wiederholte der Bürgermeister verblüfft. »Wie ist das geschehen?«
»Das ist eine längere Geschichte. Ich werde sie Ihnen erzählen, sobald der Sheriff wieder in der Stadt ist.«
»Lassen Sie mich herein und erzählen Sie mir die Geschichte jetzt!« verlangte der Bürgermeister. »Ich vertrete meinen Bruder, wenn er weg ist.« »Das mag sein«, erwiderte Jacob. »Ich möchte aber trotzdem lieber mit Ihrem Bruder sprechen.«
Sie hörten Getuschel draußen auf dem Gang.
Dann meldete sich Wallace Hood wieder: »Nichts zu machen, Adler. Wenn Sie uns nicht sofort hereinlassen, stürmen wir das Zimmer mit Waffengewalt!«
»Mit welcher Begründung?«
»Sie stehen unter Mordverdacht, Adler.«
»Mordverdacht?«
»Yeah. Sie haben doch selbst gesagt, daß der Reverend tot ist.«
»Ich habe ihn nicht getötet, sondern ein Trapper.«
»Was für ein Trapper denn? Ist ja auch egal. Das können Sie alles dem Richter erzählen.«
»Wenn ich den jemals zu Gesicht bekomme«, knurrte Jacob.
»Meine Geduld ist zu Ende, Adler. Ich zähle jetzt bis fünf. Wenn Sie dann die Tür noch nicht geöffnet haben, schicken wir Ihnen ein paar blaue Bohnen ins Zimmer.«
»Miß Sommer ist bei mir.«
»Was kann ich dafür?«
»Die meinen es ernst«, sagte Jacob und erhob sich aus der Deckung. »Es hat keinen Zweck, Irene. Wir müssen uns ergeben.«
»Traust du dem Bürgermeister etwa?«
»Nein. Aber wenn wir es auf einen Kampf ankommen lassen, ist das unser Ende.«
Allein hätte er es vielleicht auf einen Kampf ankommen lassen. Aber seine dringendste Sorge war, Irene zu beschützen.
»Eins«, begann draußen Wallace Hood laut zu zählen.
»Ist gut, Hood«, rief Jacob. »Ich öffne die Tür. Sagen Sie Ihren Männern, sie sollen die Finger vom Abzug lassen. Ich komme ohne Waffen.«
»Beeilen Sie sich!«
Jacob legte Colt und Messer auf den Boden, und auch Irene trennte sich von dem Webley. Dann zog er die Kommode von der Tür und drehte den Schlüssel im Schloß herum.
Sofort wurde die Tür aufgestoßen, und Hoods bewaffneter Trupp drängte herein. Die Männer hielten Jacob und Irene mit ihren Waffen in Schach.
»Wer ist das?« fragte Hood, der vor dem Bett stand.
»Sie kennen ihn als Franz Pape«, antwortete Jacob. »Aber eigentlich heißt er Alwin Rohlfing. Er schlägt sich mit Raub, Vergewaltigung und Mord durchs Leben. Er hat Randolph Haggard erschossen. Und er hat Haggards Frau vergewaltigt, zusammen mit seinem Freund und Ihrem Sohn. Aber ich schätze, das wissen Sie längst.«