Damit ließ er Irene stehen und wandte sich wieder der reichlich gedeckten Tafel zu.
Jacob trat vor Irene und legte sanft eine Hand auf ihre Schulter.
»Mach dir nichts aus seinen Worten. Wir sind so weit gekommen. Jetzt werden wir Carl auch finden!«
Als ihn Irene ansah, bemerkte Jacob das feuchte Glitzern in ihren grünblauen Augen. Sie bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen, und zwang ein Lächeln auf ihr ebenmäßiges, schönes Gesicht, das, umrahmt von in der Sonne golden schimmernden Locken, Jacob immer wieder aufs neue in seinen Bann schlug.
»Sicher, Jacob«, seufzte sie und lächelte tapfer. »Wir werden ihn schon finden.«
Aus ihrer Stimme sprachen Müdigkeit und Enttäuschung, die in einem krassen Gegensatz zu ihren Worten standen. Jacob hatte den Eindruck, das Lächeln würde aus ihrem Gesicht verschwinden und Irene würde in Tränen ausbrechen, sobald sie sich von ihm abwandte.
Er konnte nicht anders, als den Griff um ihre Schulter zu verstärken, sie dichter zu sich zu ziehen und zu sagen: »Wir werden Carl finden, Irene. Das verspreche ich dir!«
Jacob war ein Mann, der stets sein Wort hielt. Er fragte sich jedoch ernsthaft, ob das in diesem Fall auch so sein würde.
*
Nachdem der Hunger, den die Siedler nach ihrer schweren Arbeit zu Recht verspürt hatten, gestillt war, packten ein paar der Männer ihre Musikinstrumente aus und spielten zum Tanz auf. Den verschiedenen Nationalitäten der Menschen entsprechend wurden auch die verschiedensten Tänze aufgeführt: der Cotillon, die Polka, der Walzer, und natürlich immer wieder der in Amerika so beliebte Square Dance. Auch die Mountain Men mischten sich unter die Tänzer und gaben sich ganz unbefangen. Wer einen Tanz nicht beherrschte, wackelte einfach ordentlich hin und her. Die Hauptsache war, man hatte Spaß.
Urilla Anderson hatte ausgiebig mit Martin getanzt. Aber plötzlich, die Sonne versank allmählich hinter den westlichen Bergen der Cascade Range, hatten es die beiden Verliebten eilig, der herumwirbelnden Tänzerschar, zu entfliehen.
Jacob stand bei Irene, die ihren Jamie auf dem Arm trug und deshalb nicht tanzen konnte. Ihm fiel sofort auf, daß etwas nicht in Ordnung war. Urilla konnte kaum gehen und mußte von Martin gestützt werden.
»Mit Urilla stimmt etwas nicht«, sagte Jacob. »Ich schau mal nach, was los ist.«
Er fand Urilla und Martin ein ganzes Stück entfernt bei den Planwagen, mit denen ein Teil der Siedler zur Koontz-Farm gekommen war. Die junge Frau saß mit kreidebleichem Gesicht auf der Deichsel eines Prärieschoners, und Jacobs stämmiger Freund fächelte ihr in etwas hilflos aussehender Manier Luft mit der bloßen Hand zu.
»Was ist passiert?« erkundigte sich Jacob. »Ist dir mein tapsiger Freund etwa beim Tanzen auf die Füße getreten, Urilla?«
»Nein«, antwortete die wohlgerundete Schönheit mit der feuerroten Haarpracht, ähnlich wie zuvor Irene tapfer lächelnd. »Es ist nur ein kleiner Schwächeanfall.«
»Es kam ganz plötzlich«, fügte Martin hinzu, ohne den besorgten Blick von der Frau zu nehmen, die er heiraten wollte. »Eben haben wir noch fröhlich getanzt, und auf einmal fiel Urilla in meine Arme. Ich habe keine Ahnung, was es ist.«
»Aber ich«, sagte die Frau zur Verwunderung der beiden Männer und zog ihre neugierigen Blicke auf sich. »Es ist das Kleine.«
»Häh?« machte Martin verständnislos, während Jacob, der schneller begriffen hatte, zu grinsen begann. »Etwas Kleines? Wovon sprichst du, Urilla?«
Urilla hob den Kopf und blickte in Martins blaue Augen. »Von unserem Kind.«
Jetzt erbleichte auch Martin und hielt sich am Fahrerkasten des Prärieschoners fest. Er bewegte in der Aufregung die Lippen, ohne daß ein Laut über sie kam.
»Unser Kind?« wiederholte er endlich ganz langsam, jede Silbe betonend. Die starr auf Urilla gerichteten Augen fielen ihm fast aus dem Gesicht. »Du meinst, wir bekommen ein Kind? Wir beide?«
Urilla nickte.
»Einer allein hat das bis jetzt auch noch nicht fertiggebracht«, sagte Jacob lachend und schlug seinem Freund kräftig auf die Schulter. »Gratuliere, Martin. Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.« Er sah Urilla an. »Andererseits, bei so einer hübschen Frau mußte es ja gelingen. Auch für dich meine Glückwünsche, Urilla. Seit wann weißt du es schon?«
»Noch nicht lange.«
»Noch nicht lange?« echote Martin. »Was heißt das? Weshalb hast du es mir nicht sofort gesagt?«
»Ich wollte auf die richtige Gelegenheit warten.« Sie schluckte. »Und jetzt hast du es so erfahren.«
»Besser so als überhaupt nicht«, brummte Martin und spielte den Gekränkten, vergaß dabei aber nicht, Urilla weiterhin Luft zuzufächeln.
»Du wirst es schon früh genug merken, Martin«, meinte Jacob. »Wenn dich der Kleine mitten in der Nacht aus dem Schlaf kräht.«
»Oder die Kleine!« meinte Urilla ein wenig schnippisch.
»Ja, genau«, entfuhr es Martin. »Was ist es denn, ein Junge oder ein Mädchen?«
Jetzt war es an Urilla, laut zu lachen. »Wenn ich das voraussagen könnte, würde ich auf dem Jahrmarkt auftreten und mit dieser Kunst viel Geld verdienen.«
»Brauchst du etwas, Urilla?« fragte Martin, auf einmal, nachdem er die erste Überraschung verwunden hatte, wieder sehr besorgt klingend. »Etwas zu trinken? Oder möchtest du lieber etwas essen? Willst du dich ein wenig hinlegen? Oder soll ich die Ochsen anspannen und dich nach Hause fahren?«
Urilla lächelte, von Martins aufgeregter Fürsorglichkeit amüsiert und zugleich erfreut darüber.
»Ich möchte einfach nur ein wenig hier sitzen und frische Luft schnappen. Geh schon mit Jacob zurück zu den anderen, Martin, und stoßt auf unser Kleines an. Ich komme gleich nach.«
Martin sah sie zweifelnd an. »Bist du ganz sicher, daß wir dich in deinem Zustand allein lassen können, Urilla?«
Urilla nickte. »Ganz sicher, Martin. Es waren schon andere Frauen schwanger, ohne daß ständig jemand um sie herum gewesen ist.«
Nur widerstrebend ließ Martin seine Braut allein und kehrte mit Jacob zum lauten Trubel der feiernden Siedler zurück. Jacob fiel die bekümmerte Miene seines Freundes auf.
»Du scheinst dich aber gar nicht über die Nachricht zu freuen, Martin.«
»Doch, ich freue mich schon. Es kommt nur so schnell.«
»Das liegt doch wohl auch an dir. Urilla allein ist nicht für ihren Zustand verantwortlich.«
Martin schüttelte sein rotblondes Haupt mit dem runden, offenem Sommersprossengesicht.
»Nein, Jacob, du verstehst mich falsch. Ich freue mich wirklich sehr, Vater zu werden. Ich wäre nur gern mit Urilla verheiratet, wenn unser Kind zur Welt kommt.«
»Wir haben gerade unsere Häuser gebaut. Du kannst nicht erwarten, daß sich schon ein Pfarrer hier niederläßt und seine Kirche errichtet. Noch nicht einmal die Leute drüben in Hoodsville haben eine Kirche oder einen Pfarrer, und die siedeln schon seit mehr als zehn Jahren hier. Früher oder später fahrt ihr nach Oregon City oder zu einer Missionsstation, und dann wird geheiratet. Wenn Abner Zachary noch lebte, hätten wir einen Prediger hier. Vielleicht kommt ja mal ein Wanderprediger nach Abners Hope.«
Als Jacob das sagte, ahnte er nicht, wie schnell die letzten Worte in Erfüllung gehen sollte. Hätte er es gewußt und auch, was damit zusammenhing, hätte er es nicht herbeigewünscht.
*
Urilla saß auf der Wagendeichsel und genoß die kühle, wohltuende Abendbrise. Der Wind spielte mit ihren Locken, die ein leichtes Kitzeln auf ihrer Haut hervorriefen. So wie Martin, wenn seine Hände mit einer Sanftheit, die man dem kräftigen Mann auf den ersten Blick nicht zutraute, über Urillas Haut strichen.
Sie konnte ihr Glück kaum fassen: einen Mann wie Martin Bauer und jetzt noch das Kind. Dabei hatte sie befürchtet, keine Kinder mehr bekommen zu können, nachdem sie das Ungeborene hatte wegmachen lassen. Es war zwar ihr Kind gewesen, aber auch das Kind ihrer Vergewaltiger, die zugleich die Mörder von Urillas Mutter und Urillas beiden Schwestern waren.