Выбрать главу

Er hatte zu ihr nie darüber gesprochen, weil Carl Dilgers Schatten stets zwischen ihnen gestanden hatte. Manchmal glaubte er, daß Irene auch für ihn mehr empfand als für einen bloßen Freund. Aber selbst wenn es so war, was hätte es genützt? Nicht Jacob, sondern Dilger war Jamies Vater. Nicht Jacob, sondern Dilger hatte Irene versprochen, sie zur Frau zu nehmen.

Jetzt war plötzlich alles anders. Die Nachricht von Dilgers Tod hatte Jacob zum erstenmal den Ausblick auf eine gemeinsame Zukunft mit Irene eröffnet. In der schlaflosen Nacht, die er verbracht hatte, hatte er immer wieder daran gedacht.

Das war der Grund, weshalb er Irenes Nähe auf einmal als unangenehm empfand. Er schämte sich seiner selbstsüchtigen Gedanken angesichts des Leids, das Irene widerfahren war. Immer wieder versuchte er, diese Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Aber es wollte ihm nicht gelingen.

Auch während der Mittagsrast herrschte eine gedrückte Stimmung. Sie schlugen ihr Lager am Rande eines kleinen Waldes auf und spannten die Zugpferde zwar ab, ließen sie aber im Geschirr, um nicht zuviel Zeit zu verlieren. Sie wärmten Bohnen und Speck auf und aßen Maisbrot dazu. Das Ganze spülten sie mit heißem Kaffee herunter, um die immer unangenehmer werdende Kälte aus ihren Knochen zu vertreiben. Während des Essens begann es zu regnen, und sie sahen zu, daß sie schnell weiterkamen.

»Hier müssen wir nach links«, sagte Reverend Driscoll irgendwann am Nachmittag und zeigte auf die Ausläufer der Cascade Range.

»In die Berge?« fragte Jacob ungläubig, während er auf Felsen und Bäume blickte. »Da kommen wir mit dem Wagen niemals durch.«

»Doch, kommen wir«, widersprach der schwarze Reiter. »Ich kenne eine Abkürzung, durch die wir einen halben Tag sparen.

Es ist eine langgezogene Schlucht, die für den Planwagen ohne weiteres passierbar ist.«

Driscoll kannte sich in der Gegend besser aus als Jacob. Also lenkte der Deutsche, wenn auch widerwillig, den Wagen in die angegebene Richtung. Er rumpelte über stetig ansteigendes Gelände. Viel mehr konnte Jacob nicht erkennen, da sich auf beiden Seiten hohe Fichten und Hemlocktannen in den düsteren Himmel reckten, als wollten sie ihn aufreißen und die hinter dicken Wolken verborgene Sonne endlich zum Vorschein bringen.

Je steiler es wurde, desto mehr mußten sich die Zugpferde anstrengen. Bald stand ihnen Schaum vor dem Maul. Nur dem Rappen des Reverends schien der anstrengende Weg nichts auszumachen.

»Sind Sie sicher, daß dies der richtige Weg ist, Reverend?« erkundigte sich Jacob, als der Wagen nur noch mit der Geschwindigkeit eines langsamen Fußgängers vorwärtskam.

»Absolut«, antwortete Driscoll mit einem bekräftigenden Nicken. »Gleich haben wir es überstanden. Die Steigung wird aufhören, und wir kommen wieder schneller voran.«

»Das sollten wir auch, wenn wir tatsächlich Zeit einsparen wollen«, brummte Jacob.

Irene schien das alles unbeeindruckt zu lassen. Ihr glasiger Blick war in weite Ferne gerichtet. Vielleicht weilte sie in Gedanken schon in Hoodsville, am Grab ihres Geliebten. Oder sie befand sich in der Vergangenheit, in Hamburg, als ihr eine kurze Zeit des Glücks mit Carl Dilger gegönnt gewesen war.

Jacob konnte verstehen, daß sie es nicht besonders eilig hatte, nach Hoodsville zu kommen. Einerseits mußte sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß ihre Suche hier in Oregon ein unerwartetes, trauriges Ende fand. Andererseits fürchtete sie sich vor dem Moment, der die Nachricht von Carl Dilgers Tod zur Gewißheit werden ließ.

Driscoll behielt recht. Keine Viertelstunde, nachdem sich Jacob über den für die Zugpferde mühsamen Aufstieg beschwert hatte, wurde das Gelände zusehends flacher und führte für ein kurzes Stück sogar sanft abwärts. Der dichte Wald wurde lichter und mündete in eine enge Schlucht mit schroffen, hochaufragenden Felswänden, die Jacob ein wenig an den unglückbringenden Geistercanyon erinnerten, in dem an die fünfzig Auswanderer den Tod gefunden hatten.

Aber die Schlucht, durch die es jetzt ging, war nicht so trostlos und bar jedweden pflanzlichen Lebens wie der Canyon in den Rockies. Auf dem Boden wuchs saftiges Gras, das von einem hin und wieder sichtbaren Creek gespeist wurde. Zuweilen verschwand der kleine Bach zwischen Baumgruppen. Selbst die steilen Wände waren mit Moosen, Strauchwerk und einzelnen Bäumen bewachsen. Oben auf den Felsen standen viele Bäume am Rand der Schlucht, waren wegen des immer dichter werdenden Nebels für die drei Menschen unten jedoch nur undeutlich erkennbar.

Sie fuhren schon fast eine Stunde durch den sich wie eine Schlange windenden Canyon, als dicht neben Jacob plötzlich das Holz des Fahrerkastens splitterte.

Gleichzeitig spritzte vor dem Rappen eine Erdfontäne hoch. Das Tier scheute, stieg mit den Vorderhufen in die Luft und warf seinen Reiter ab.

Als Jacob die Detonationen der Schüsse hörte, hatte er schon die Wagenbremse angezogen, Irene gepackt und sie auf der den unsichtbaren Schützen abgewandten Seite vom Bock gestoßen.

Er griff hinter sich nach dem dort deponierten SharpsKarabiner und sprang hinter Irene her. In letzter Sekunde. Wo er eben noch gesessen hatte, fuhr eine Kugel ins Holz.

Der verschreckte, reiterlose Rappe sprengte durch das Tal und verschwand zwischen einigen Hemlocktannen. Driscoll, der bei dem Sturz seinen Hut verloren hatte, sprang im Zickzack, von Kugeln verfolgt, heran und warf sich neben die beiden Deutschen hinter den Deckung bietenden Wagen.

Kugeln klatschten immer wieder ins Holz und rissen lange Splitter heraus.

»Wer ist das?« fragte Irene, die endlich aus ihrer Lethargie erwacht war.

»Keine Ahnung«, knurrte der Reverend und zog seinen Webley. »Aber wer immer die Kerle sind, sie schießen verdammt gut, wenn der Herr im Himmel mir diesen Ausdruck verzeiht. Ein bißchen höher nur, und sie hätten nicht mein Pferd erschreckt, sondern für mich das Jüngste Gericht eingeläutet.«

»Wirklich?« fragte Jacob und drückte die Mündung des Karabiners gegen Driscolls Kopf.

Irene war ebenso erschrocken wie der Mann in Schwarz.

»Was soll das?« fragte die junge Frau. »Weshalb bedrohst du den Reverend?«

»Weil ich von ihm wissen will, wer die Kerle sind, die von da oben auf uns schießen.«

Während er sprach, warf Jacob einen nur Sekundenbruchteile währenden Blick zur rechts ihrer Fahrtrichtung gelegenen Felswand. Der Richtung der Schüsse nach zu urteilen, mußten die Attentäter irgendwo da oben stecken, verborgen hinter Felsen, Büschen oder Bäumen. Jacob schätzte, daß es mindestens drei waren. Aber bis jetzt hatte er keinen von ihnen entdecken können.

»Ich sagte doch, daß ich nicht weiß, wer die Kerle sind«, sagte Driscoll, der seinen Sechsschüsser noch in der Rechten hielt.

»Und ich glaube Ihnen nicht, Reverend, oder was immer Sie sein mögen. Lassen Sie die Waffe fallen!«

»Aber Jacob!« stieß Irene hervor, die ihren Freund nicht verstand.

Jacob ging nicht darauf ein, sondern schnarrte: »Fallen lassen, habe ich gesagt!«

Driscoll gehorchte und sagte: »Ich verstehe Sie nicht, Adler.« »Ich Sie auch nicht. Das ist es ja, was mir Sorgen macht. Alles an Ihnen ist merkwürdig. Ein Reverend, der sich mit seinem Schießeisen fast besser auskennt als in der Heiligen Schrift. Und der uns in diesen Canyon lockt, in einen Hinterhalt.«

»Ich habe Sie nicht hierhergelockt!« Driscoll sah auf den Steilhang, von dem unablässig Schüsse heranjaulten, die in den Planwagen oder ins Erdreich schlugen. »Ich wußte nichts davon, wirklich!«

»Seit Sie aufgetaucht sind, ist der Tod bei uns eingekehrt«, sagte Jacob hart. »Sie ziehen heißes Blei an wie der Teufel die verlorenen Seelen. Das schmeckt mir nicht!«

»Das ist ein Zufall«, beharrte Driscoll. »Ich.«

Seine Worte gingen in einem Aufstöhnen unter, und er sackte zusammen. Seine Stirn war blutigrot.

»Er ist tot!« schrie Irene in einem Anflug von Panik. »Sie haben ihn umgebracht. Du hast ihm unrecht getan, Jacob!«