Eine solch optimistische Einschätzung aus dem Mund des Befehlshabers der Orion war für Geary eine völlig neue Erfahrung. »Ich konnte mitansehen, wie Ihr Schiff die Tanuki und die Titan gerettet hat. Die beiden hätten wahrscheinlich keinen Treffer überlebt, der bei einem Schlachtschiff so schwere Schäden verursacht. Sie und Ihre Crew haben sich mustergültig und äußerst ehrbar verhalten. Ihre Vorfahren werden stolz auf Sie sein.«
»Dafür sind Schlachtschiffe nun mal da«, gab Shen schroff zurück. »Wir retten die Schlachtkreuzer, die sich in Schwierigkeiten gebracht haben, aus denen sie sich aus eigener Kraft nicht retten können. Richten Sie Captain Desjani bitte aus, dass ich das gesagt habe.«
»Wollen Sie ihr das nicht selbst sagen?«
»Nein, Sir.«
»Sie ist hier neben mir.«
»Dann hat sie es ja bereits mitbekommen, Sir.« Shen machte eine kurze Pause. »Ein verdammtes Chaos da draußen. Allerdings hatte ich damit gerechnet, dass wir deutlich mehr Schiffe verlieren würden. Interessante Taktik. Wäre das alles, Admiral?«
»Nein. Halten Sie mich über den Zustand Ihrer Verletzten auf dem Laufenden. Wenn Sie medizinische Unterstützung benötigen, kann ich die Tsunami zu Ihnen schicken. Und sorgen Sie dafür, dass diese Antriebseinheit so schnell wie möglich repariert wird. Wenn wir wieder mit den Bewohnern dieses Sternensystems aneinandergeraten, dann benötigt die Orion die komplette Antriebsleistung. Captain Smythe wird die Kupua zu Ihnen schicken, um Ihnen bei der Reparatur dieser Einheit zu helfen.«
»Vielen Dank, Admiral«, erwiderte Shen.
»Ich habe zu danken, Captain.« Geary beendete das Gespräch, dann wandte er sich an Desjani. »Es scheint Sie nicht zu stören, dass der Captain eines Schlachtschiffs abfällige Bemerkungen macht.«
»Bei dieser Schlacht hat er sich das Recht auf eine solche Bemerkung verdient«, entgegnete Desjani. »Außerdem hat er mir einmal den Hintern gerettet, als wir noch beide auf der Pavis dienten. Und er hat Ihnen gesagt, wie sehr Sie ihn beeindruckt haben. Daher fand ich, dass ich dieses Mal über seine amateurhaften Ansichten hinwegsehe.«
»Er hat mir gesagt, wie sehr ich ihn beeindruckt habe?«, wiederholte Geary.
»Ohne jeden Zweifel. Auf seine ganz eigene Art.«
Geary schüttelte den Kopf und betrachtete die auf seinem Display aufgelisteten Schäden der Invincible. »Das Glück hat bei dem Ganzen eine mindestens genauso wichtige Rolle gespielt wie ich.«
»Falsch«, konterte Desjani. »Sir, sehen Sie sich die Bewertung der Auseinandersetzung aus der Sicht der Gefechtssysteme doch nur an. Als sich unsere Formation auflöste, benötigte der Feind zwischen zehn und zwanzig Sekunden, um eine Kursänderung vorzunehmen und ein neues Ziel zu erfassen. Mit Glück hatte das nichts zu tun. Diese Auflösung unserer Formation hat den Gegner verwirrt, so wie Sie es auch beabsichtigt hatten. Das Zögern von deren Seite verschaffte uns genug Luft, um Ausweichmanöver zu fliegen und die feindlichen Schiffe zu zerstören, die den ersten Ansturm überstanden hatten. Unsere Schiffe entgingen Treffern, weil sie die Gelegenheit nutzten, ausgenommen die bedauernswerte Zaghnal. Sie muss einfach Pech gehabt haben.«
»Und die Invincible…« Er ließ die Gefechtssysteme die letzten Sekunden wiedergeben, unmittelbar bevor die Invincible getroffen wurde. Der Befehl zur Auflösung der Formation wurde erteilt, verbunden mit der Anweisung, eigenständig zu manövrieren, um den Gegner zu verwirren. Rings um den Schlachtkreuzer setzte sich alles in Bewegung und flog wild durcheinander, um kein brauchbares Ziel zu bieten, nur die Invincible verharrte auf ihrer bisherigen Flugbahn und veränderte nicht einmal ihre Geschwindigkeit. Fünf Sekunden verstrichen, dann zehn Sekunden. Bei vierzehn Sekunden wurden endlich die Steuerdüsen gezündet, doch die genügten nicht, um den Vektor des Kriegsschiffs so weit zu ändern, als dass es dem gegnerischen Schiff hätte entgehen können, das sich ihm näherte und dann detonierte.
»Er ist zur Salzsäule erstarrt. Captain Vente hat sich nicht gerührt, anstatt sofort in Aktion zu treten.«
»Und das überrascht Sie?«, murmelte Desjani.
»Sollte er noch leben, war das sein letztes Kommando in dieser Flotte«, erwiderte Geary. Ihm entging sein eigener aufgebrachter Tonfall nicht. Warum habe ich ihm nicht schon früher das Kommando entzogen? Warum ist mir kein Argument dafür eingefallen? Wer weiß, wer an Bord der Invincible gestorben ist, nur weil Vente ein unfähiger Befehlshaber war! Und ich hatte allen Grund, an seiner Befähigung zu zweifeln, und trotzdem habe ich nicht zeitig gehandelt. Mich trifft genauso viel Schuld wie Vente, verdammt noch mal!
»Sie können nichts dafür«, sagte Desjani plötzlich.
Er sah sie verblüfft an. »Woher wissen Sie…?«
»Ich kenne Sie schließlich. Hören Sie, das Hauptquartier hatte ihm das Kommando über die Invincible übertragen. Sie hatten Ihre Bedenken, aber Sie können einem befehlshabenden Offizier nicht einfach aufgrund von Bedenken das Kommando entziehen. Sonst hätten Sie Shen schon vor langer Zeit von der Orion nehmen müssen. Sie benötigen einen triftigen Grund für eine solche Maßnahme. So ist das schon seit langer Zeit, und es hat sich bewährt.« Desjani musterte ihn. »Haben Sie mich verstanden?«
»Nein. Ich kann sehr wohl etwas dafür. Wir hätten die Invincible verlieren können, weil ich nicht gehandelt habe, obwohl es nötig gewesen wäre.« Als hätte er ein Stichwort gegeben, leuchtete in diesem Moment ein Warnlicht auf seinem Display auf. »Nachricht von der Tanuki, Admiral«, meldete der Komm-Wachhabende.
»Durchstellen«, befahl Geary, und im nächsten Augenblick tauchte das Gesicht von Captain Smythe vor Geary in der Luft auf. Der Befehlshaber des Hilfsschiffs Tanuki und Senior-Ingenieur der Flotte strahlte zur Abwechslung einmal nicht. »Ich habe mir persönlich die Schadensliste der Invincible angesehen, Admiral. Sie werden sicher nicht gern hören, dass Ihnen keine große Wahl bleibt.«
»Ist es so schlimm?«, fragte Geary.
Da das Weltall so ungeheuer groß war, hielten sich Schiffe oftmals mehrere Lichtminuten oder sogar Lichtstunden voneinander entfernt auf, was bei Unterhaltungen zu frustrierenden Verzögerungen führte, da eine Nachricht zunächst mit Lichtgeschwindigkeit eine Strecke von etlichen Millionen oder Milliarden Kilometern zurücklegen musste. Diesmal jedoch war die Flotte dicht genug beisammen, sodass nur ein paar Sekunden verstrichen, bis Smythe auf die Frage mit einem Schulterzucken reagierte und dann sagte: »Das kommt ganz darauf an, über welche Partien der Invincible wir uns unterhalten. Etliche Waffensysteme befinden sich noch in einem erstaunlich guten Zustand, aber was wirklich zählt, ist der Schaden an der Schiffsstruktur und am Antrieb. Da sieht es übel aus. Die Invincible kann sich nicht aus eigener Kraft von der Stelle bewegen, und wenn wir versuchen sie abzuschleppen, wird sie wahrscheinlich in mehrere große Stücke zerbrechen. Wenn ich ein paar Monate Zeit und ein Flottendock zur Verfügung gestellt bekomme, kann ich sie bestimmt wieder flugtauglich machen.« Es war Smythe anzumerken, dass er das beschädigte Schiff zu gern gerettet hätte.