»Was?« Roger ließ den Blick seitwärts schweifen und versuchte zu sehen, was sie sah.
»Hab deine Schlange gefunden. Ich vermute, sie ist ebenfalls auf der Suche nach einem Apfel.« Sie beförderte den kleinen Wurm auf ihren Finger, trat ins Freie und hockte sich hin, um ihn auf einen Grashalm kriechen zu lassen, der genauso knallgrün gefärbt war. Doch das Gras lag im Schatten. Innerhalb eines einzigen Augenblicks war die Sonne untergegangen, hatte der Wald seine lebendige Farbe verloren.
Eine Rauchspur traf ihre Nase; Schornsteinrauch aus dem Haupthaus, doch der Brandgeruch schnürte ihr die Kehle zu. Plötzlich wuchs ihre Beklommenheit. Das Licht verblasste, die Nacht war im Anmarsch. Die Nachtigall war verstummt, und der Wald schien voller Rätsel und Bedrohungen zu sein.
Sie erhob sich und schob eine Hand durch ihr Haar.
»Dann lass uns gehen.«
»Willst du nicht erst etwas essen?« Roger sah sie fragend an, die Kniehose in der Hand.
Sie schüttelte den Kopf, und die Kühle begann, ihr an den Beinen emporzukriechen.
»Nein. Lass uns einfach gehen.« Das Einzige, was eine Rolle zu spielen schien, war, Jemmy zu holen und wieder als Familie zusammen zu sein.
»In Ordnung«, sagte Roger geduldig und betrachtete sie. »Ich halte es allerdings für besser, wenn du zuerst dein Feigenblatt anziehst. Nur für den Fall, dass wir einem Engel mit einem Flammenschwert begegnen.«
Kapitel 5
Die Schatten, die das Feuer wirft
Ich überließ Ian und Rollo der Obhut von Mrs. Bug, die sie wie eine Dampfwalze mit ihrer Zuwendung überrollte – sollte Ian ihr doch sagen, dass er keine Lust auf Brot und Milch hatte –, und setzte mich mit Verspätung nieder, um selbst zu Abend zu essen, ein heißes, frisches Omelett, das nicht nur mit Käse belegt war, sondern dazu mit salzigen Schinkenstückchen, Spargel und wilden Pilzen, gewürzt mit Frühlingszwiebeln.
Jamie und der Major hatten bereits zu Ende gegessen und saßen am Feuer unter einer gemütlichen Nebelwolke aus der tönernen Tabakspfeife des Majors. Offenbar hatte Jamie Major MacDonald gerade von der grauenvollen Tragödie erzählt, denn MacDonald runzelte die Stirn und schüttelte mitfühlend den Kopf.
»Die Ärmsten!«, sagte er. »Glaubt Ihr, es waren vielleicht dieselben Banditti, die Euren Neffen überfallen haben?«
»Ja«, erwiderte Jamie. »Daran, dass sich zwei solcher Banden in den Bergen herumtreiben, darf ich gar nicht denken.« Er blickte zum Fenster, dessen Läden für die Nacht geschlossen waren, und mir fiel plötzlich auf, dass er seine Vogelflinte von ihrem Platz über dem Kamin genommen hatte und geistesabwesend mit einem Öltuch über ihren fleckenlosen Lauf rieb. »Kann ich davon ausgehen, a charaid, dass Ihr von weiteren ähnlichen Vorfällen gehört habt?«
»Drei weitere. Mindestens.« Die Pfeife des Majors drohte auszugehen, und er zog kräftig daran, so dass der Tabak im Pfeifenkopf rot aufglühte und knisterte.
Eine dumpfe Vorahnung ließ mich innehalten, ein Stück warmen Pilz im Mund. Die Möglichkeit, dass eine mysteriöse Bande Bewaffneter ihr Unwesen trieb und wahllos Siedlungsstellen angriff, war mir bis zu diesem Moment gar nicht in den Sinn gekommen.
Jamie war sie offensichtlich in den Sinn gekommen; er erhob sich, hob die Vogelflinte wieder auf ihre Haken und ging dann zur Anrichte, wo er seine Vorderlader und das Kistchen mit den beiden eleganten Duellierpistolen aufbewahrte.
MacDonald sah ihm beifällig zu und paffte blaue Rauchwölkchen vor sich hin, während Jamie systematisch Pistolen, Patronenhülsen, Kugelgießformen, Leinenpflaster, Ladestöcke und das restliche Zubehör seiner persönlichen Waffenkammer vor sich ausbreitete.
»Mmpfm«, sagte MacDonald. »Das ist aber ein schönes Stück, Oberst.« Er wies kopfnickend auf eine der Vorderladerpistolen, eine elegante Waffe mit einem langen Lauf, einem schneckenförmig geschwungenen Kolben und versilberten Beschlägen.
Beim Klang des Wortes »Oberst« sah Jamie MacDonald scharf an, doch er antwortete ganz ruhig.
»Aye, hübsch ist sie. Allerdings kann man höchstens zwei Schritte weit damit zielen. Hab sie beim Pferderennen gewonnen«, fügte er mit einer kleinen, entschuldigenden Geste in Richtung der Pistole hinzu, für den Fall, dass MacDonald ihn für so dumm hielt, gutes Geld dafür bezahlt zu haben.
Dennoch überprüfte er das Steinschloss, schloss es wieder und legte die Pistole beiseite.
»Wo?«, fragte er beiläufig und streckte die Hand nach der Kugelgießform aus.
Ich kaute jetzt wieder, sah den Major aber meinerseits fragend an.
»Ich weiß es allerdings auch nur vom Hörensagen«, warnte MacDonald. Er nahm die Pfeife kurz aus dem Mund, dann steckte er sie hastig wieder hinein, um daran zu ziehen. »Eine Ansiedlung in der Gegend von Salem, niedergebrannt. Leute namens Zinzer – Deutsche.« Er zog so fest an seiner Pfeife, dass seine Wangen hohl wurden.
»Das war im Februar, gegen Ende des Monats. Dann drei Wochen später, eine Fähre am Yadkin nördlich von Woram’s Landing – das Haus ausgeraubt, der Fährmann umgebracht. Das dritte –« Hier brach er ab, zog heftig an seiner Pfeife, richtete den Blick auf mich, dann wieder auf Jamie.
»Sprecht nur, Freund«, sagte Jamie mit resigniertem Gesichtsausdruck auf Gälisch. »Sie hat mit Sicherheit schon schlimmere Dinge gesehen als Ihr.«
Ich nickte dazu, schob mir mit der Gabel einen Bissen Ei in den Mund, und der Major hustete.
»Aye. Nun, bitte um Verzeihung, Ma’am – ich befand mich zufällig in einem, äh, Etablissement in Edenton …«
»Ein Bordell?«, warf ich ein. »Ah, verstehe. Fahrt fort, Major.«
Das tat er mit großer Eile, und sein Gesicht lief unter seiner Perücke dunkelrot an.
»Äh … genauso ist es. Nun, seht Ihr, es war eine der, äh, Damen dort. Sie hat erzählt, sie sei von Gesetzlosen entführt worden, die eines Tages ohne Warnung ihr Zuhause überfallen hätten. Sie hätte nur mit ihrer alten Großmutter zusammengelebt, und sie sagt, die Männer hätten die Alte umgebracht und das Haus über ihr angezündet.«
»Und wer, sagt sie, soll das getan haben?« Jamie hatte seinen Hocker zum Kamin gedreht und schmolz in einem Gießtiegel Bleireste für die Kugelform.
»Ah, mmpfm.« MacDonald wurde noch röter, und der Rauch quoll in solchen Massen aus seiner Pfeife auf, dass ich seine Gesichtszüge in den Kringelwolken kaum noch erkennen konnte.
Unter heftigem Husten und zahlreichen Ausflüchten kam schließlich heraus, dass der Major dem Mädchen damals eigentlich nicht geglaubt hatte – oder zu sehr daran interessiert gewesen war, sich an ihren Vorzügen zu weiden, um ihr große Aufmerksamkeit zu schenken. Er hatte die Geschichte einfach für eines jener Märchen gehalten, die Huren oft erzählten, um Mitleid zu erwecken und den einen oder anderen Genever spendiert zu bekommen, daher hatte er sich nicht die Mühe gemacht, nach weiteren Details zu fragen.
»Aber als ich später durch Zufall von den anderen Bränden erfuhr … nun ja, seht Ihr, ich habe das Glück gehabt, vom Gouverneur damit beauftragt zu werden, sozusagen ein Ohr am Boden zu haben und im Hinterland auf Anzeichen von Unruhen zu achten. Und allmählich dachte ich, dass dieser spezielle Fall von ›Unruhe‹ vielleicht weniger zufällig war, als es zunächst den Anschein hatte.«
Bei diesen Worten wechselte ich einen Blick mit Jamie. In seinem lag Belustigung, in meinem Resignation. Er hatte mit mir gewettet, dass MacDonald – ein auf halbe Bezahlung gesetzter Kavallerieoffizier, der davon lebte, dass er gegen Geld seine Dienste anbot – nicht nur Gouverneur Tryons Abdankung überleben würde, sondern es ihm auch gelingen würde, sich prompt eine Anstellung bei der neuen Verwaltung zu erschleichen, jetzt da Tryon abgereist war, um den bedeutenderen Posten des Gouverneurs von New York zu beziehen. »Er ist ein Glücksritter, unser Donald«, hatte er gesagt.