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»Wie ich sehe, hat Lizzie ihnen ein paar Manieren beigebracht«, sagte Roger, »und nicht nur das Abc. Aber glaubst du, dass sie einmal wirklich zivilisiert sein werden?«

»Nein«, sagte sie mit einer Spur von Bedauern.

»Ehrlich?« Sie konnte sein Gesicht im Dunkeln nicht sehen, hörte aber die Überraschung in seiner Stimme. »Eigentlich habe ich die Frage gar nicht ernst gemeint. Glaubst du es tatsächlich nicht?«

»Nein – und wenn man bedenkt, wie sie aufgewachsen sind, ist es doch auch kein Wunder. Hast du gesehen, wie sie sich über die Pfeife gefreut haben? Ihnen hat noch nie jemand ein Geschenk gemacht oder ein Spielzeug gegeben.«

»Wohl nicht. Und du meinst, so etwas lässt Jungen zivilisiert werden? Wenn ja, dann wird unser Jem wohl Philosoph oder Künstler oder so etwas werden. Mrs. Bug verwöhnt ihn ja von morgens bis abends.«

»Ah, als ob du das nicht ebenfalls tust«, sagte sie geduldig. »Und Pa und Lizzie und Mama und wer immer sonst noch in Sichtweite ist.«

»Oh, nun gut«, sagte Roger, der sich durch diese Anschuldigung nicht in Verlegenheit bringen ließ. »Warte nur, bis er Konkurrenz bekommt. Germain ist nicht in Gefahr, verwöhnt zu werden, oder?« Germain, Fergus’ und Marsalis Ältester, wurde von zwei kleinen Schwestern auf Trab gehalten, die allgemein als die Höllenkätzchen bekannt waren und ihren Bruder mit ihrem Nörgeln und Hänseln auf Schritt und Tritt verfolgten.

Sie lachte, verspürte jedoch eine leise Beklommenheit. Bei dem Gedanken an ein weiteres Baby bekam sie regelmäßig das Gefühl, atemlos und mit verkrampftem Bauch am höchsten Punkt einer Achterbahn zu schweben, hin- und hergerissen zwischen freudiger Erregung und Schrecken. Vor allem jetzt, wo sich die Erinnerung an ihre Liebkosungen noch sanft und schwer wie Quecksilber in ihrem Bauch bewegte.

Roger schien ihre gemischten Gefühle zu spüren, denn er vertiefte das Thema nicht weiter, sondern griff nach ihrer Hand und hielt sie mit seinen großen warmen Fingern fest. Die Sonne war noch nicht lange verschwunden, doch die Luft war schon kalt, und in den Bodenmulden hingen die letzten Spuren der Winterkälte.

»Aber was ist dann mit Fergus?«, fragte er und nahm einen früheren Gesprächsfaden wieder auf. »Nach allem, was ich höre, hatte er auch keine schöne Kindheit, aber er kommt mir doch sehr zivilisiert vor.«

»Meine Tante Jenny hat ihn aufgezogen, seit er zehn war«, widersprach sie. »Du hast sie ja noch nicht kennengelernt, aber glaube mir, sie hätte Adolf Hitler zivilisieren können, wenn sie es sich in den Kopf gesetzt hätte. Außerdem ist Fergus in Paris aufgewachsen, nicht im Hinterland – selbst wenn es ein Bordell war. Und nach dem, was Marsali mir erzählt, klingt es nach einem ziemlich erstklassigen Bordell.«

»Oh, aye? Was erzählt sie dir denn?«

»Oh, nur Geschichten, die er ihr im Lauf der Zeit erzählt hat. Über die Kunden und die H–, die Mädchen.«

»Kannst du etwa nicht ›Hure‹ sagen?«, fragte er belustigt. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg, und war froh, dass es dunkel war; er zog sie nur noch mehr auf, wenn sie rot wurde.

»Ich kann doch nichts dafür, dass ich eine katholische Schule besucht habe«, verteidigte sie sich. »Frühe Konditionierung.« Er hatte recht; sie konnte bestimmte Wörter einfach nicht sagen, es sei denn, Wut hatte sie gepackt, oder sie hatte sich gedanklich darauf vorbereitet. »Aber warum kannst du es überhaupt? Man sollte doch glauben, dass ein Pastorjunge dasselbe Problem hat.«

Er lachte ein bisschen ironisch.

»Nicht ganz dasselbe Problem. Bei mir war es eher so, dass ich mich gezwungen gefühlt habe, vor meinen Freunden zu fluchen und mich danebenzubenehmen, um zu beweisen, dass ich es konnte.«

»Danebenbenehmen?«, fragte sie, weil sie eine Geschichte witterte. Er sprach nicht oft über seine Kindheit, die er als Adoptivsohn seines Onkels, eines Presbyterianerpastors, in Inverness verbracht hatte, doch sie liebte es, sich die Bröckchen anzuhören, die er manchmal fallenließ.

»Och. Rauchen, Bier trinken, schmutzige Wörter an die Wände der Jungentoilette schmieren«, sagte er, und das Lächeln in seiner Stimme war deutlich zu hören. »Mülleimer umstoßen. Die Luft aus Autoreifen lassen. Bei der Post Süßigkeiten klauen. Eine Zeitlang war ich ein richtiger kleiner Krimineller.«

»Der Schrecken von Inverness, wie? Hattet ihr eine Gang?«, zog sie ihn auf.

»O ja«, sagte er und lachte. »Gerry MacMillan, Bobby Cawdor und Dougie Buchanan. Ich war der Außenseiter, nicht nur, weil ich der Pastorjunge war, sondern auch, weil ich einen englischen Vater und einen englischen Namen hatte. Also war ich dauernd darauf aus, ihnen zu zeigen, dass ich ein harter Kerl war. Was bedeutete, dass ich meistens derjenige war, der in den größten Schwierigkeiten steckte.«

»Ich hatte ja keine Ahnung, dass du einmal ein jugendlicher Delinquent warst«, sagte sie ganz verzaubert von dieser Vorstellung.

»Na ja, es hat auch nicht lange gedauert«, versicherte er ihr trocken. »In dem Sommer, als ich fünfzehn wurde, hat mich der Reverend auf einem Boot angeheuert und mich mit den Heringsfischern zur See geschickt. Ich weiß nicht, ob er es getan hat, um meinen Charakter zu verbessern, damit ich nicht im Gefängnis landete oder weil er mich einfach nicht länger in seinem Haus ertragen konnte. Aber es hat funktioniert. Wenn du einmal harte Kerle kennenlernen willst, fahr mit einem Haufen gälischer Fischer zur See.«

»Ich werde es mir merken«, sagte sie. Sie versuchte, nicht zu kichern, und stieß stattdessen eine Reihe leiser, feuchter Prustgeräusche aus. »Und sind deine Freunde im Gefängnis gelandet, oder sind sie aufrechte Bürger geworden, als du nicht mehr da warst, um sie auf Abwege zu führen?«

»Dougie ist zur Armee gegangen«, sagte er mit einem Hauch von Wehmut in der Stimme. »Gerry hat den Laden seines Vaters übernommen – sein Vater war Tabakhändler. Bobby … aye. Na ja, Bobby ist tot. Ist noch im selben Sommer ertrunken, vor Oban beim Hummerfischen mit seinem Vetter.«

Sie lehnte sich dichter zu ihm hinüber, drückte seine Hand und strich ihm mitfühlend über die Schulter.

»Tut mir leid«, sagte sie, dann hielt sie inne. »Obwohl … er ist gar nicht tot, nicht wahr? Noch nicht. Nicht in dieser Zeit.«

Roger schüttelte den Kopf und stieß einen schwachen Laut aus, in dem sich Humor und Bestürzung mischten.

»Ist das ein Trost?«, fragte sie. »Oder ist es eine schreckliche Vorstellung?«

Sie wollte, dass er weitersprach; so viel hatte er nicht mehr an einem Stück geredet, seit man ihn gehängt und ihm seine Singstimme geraubt hatte. Es machte ihn befangen, in der Öffentlichkeit zu sprechen, und schnürte ihm die Kehle zu. Seine Stimme war auch jetzt noch rauh, doch so entspannt, wie er jetzt war, würgte und hustete er zumindest nicht.

»Beides«, sagte er und stieß den gleichen Laut noch einmal aus. »Ich werde ihn so oder so nie wiedersehen.« Er zuckte sacht mit den Achseln, wie um den Gedanken zu verdrängen. »Denkst du oft an deine alten Freunde?«

»Nein, nicht oft«, sagte sie leise. Der Pfad wurde hier schmaler, und sie hakte sich bei ihm ein und ging dicht neben ihm, während sie sich der letzten Wegbiegung näherten, die sie in Sichtweite der McGillivrays bringen würde. »Ich habe hier genug, was mich beschäftigt.« Sie wollte nicht über das sprechen, was sie hier nicht hatte.

»Meinst du, Jo und Kezzie spielen nur?«, fragte sie. »Oder führen sie etwas im Schilde?«

»Was sollten sie denn im Schilde führen?«, fragte er und akzeptierte ihren Themenwechsel kommentarlos. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie auf der Lauer liegen, um einen Straßenraub zu begehen – nicht um diese Tageszeit.«

»Oh, ich glaube ihnen, dass sie Wache stehen«, sagte sie. »Sie würden alles tun, um Lizzie zu beschützen. Nur –« Sie hielt inne. Sie waren aus dem Wald auf die Wagenstraße getreten, die sich auf der anderen Seite in einer steilen Böschung absenkte. Bei Nacht sah diese aus wie ein bodenloser See aus schwarzem Samt – bei Tageslicht würde sie ein Durcheinander aus umgestürzten Baumstümpfen, Rhododendrengebüschen, Judasbäumen und Hartriegel sein, das mit den Ranken uralter Wein- und Kletterpflanzen überwuchert war. Ein Stück weiter machte die Straße eine Serpentinenkurve und lief dann dreißig Meter tiefer sanft vor dem Haus der McGillivrays aus.