Die kleine Ansammlung von Häusern – das alte Haus, das neue Haus, Ronnie Sinclairs Küferwerkstatt, Dai Jones’ Schmiede und Blockhütte – war zum Großteil erleuchtet. Kerzen- und Laternenschein strömte durch offene Türen, und ein Lagerfeuer auf dem freien Platz zwischen den Häusern bildete eine leuchtende Insel in der Dunkelheit.
»Da unten wird jedenfalls gefeiert«, sagte sie. »Sie scheinen sich keine Sorgen wegen der Briganten zu machen.«
»Nicht heute Abend. Aber was wolltest du sagen, über die Beardsley-Jungs, die Lizzie beschützen?«
»Oh.« Sie stieß sich den Fuß an einem unsichtbaren Hindernis und klammerte sich an seinen Arm, um nicht hinzufallen. »Uff! Nur, dass ich mir nicht sicher bin, vor wem sie Lizzie zu beschützen glauben.«
Roger umklammerte ihren Arm automatisch fester.
»Und was in aller Welt meinst du damit?«
»Nur dass ich mir, wenn ich Manfred McGillivray wäre, alle erdenkliche Mühe geben würde, nett zu Lizzie zu sein.« Sie ließ den Blick von dem Freudenfeuer unter ihr zurück in den dunklen, schweigenden Wald wandern. »Mama sagt, die Beardsleys laufen ihr nach wie Hunde, aber das stimmt nicht. Sie laufen ihr nach wie zahme Wölfe.«
»Ich dachte, Ian hätte gesagt, man kann Wölfe nicht zähmen.«
»Genauso ist es«, sagte sie knapp. »Komm. Lass uns Jem suchen.«
Das große Blockhaus lief praktisch über vor Menschen. Licht fiel zur offenen Tür hinaus und glühte in der Reihe schmaler Schießschartenfenster, die sich über die Frontseite des Hauses erstreckte. Ein Lagerfeuer brannte auf dem Hof, und dunkle Gestalten schwankten aus seinem Schein ins Dunkle und zurück. Die Klänge einer Geige schwebten leise und süß durch die Dunkelheit zu ihnen herauf, zusammen mit dem Duft gebratenen Fleisches.
»Dann hat Senga also ihre Wahl getroffen«, sagte Roger und nahm sie für den abschließenden Abstieg zur Wegkreuzung beim Arm. »Was wettest du, wer es ist? Ronnie Sinclair oder der Deutsche?«
»Oh, eine Wette? Worum wetten wir denn? Hoppla!« Sie stolperte über einen Stein, der halb vergraben im Weg lag, doch Roger umklammerte sie fest und hielt sie aufrecht.
»Der Verlierer bringt die Vorratskammer in Ordnung«, schlug er vor.
»Abgemacht«, erwiderte sie prompt. »Ich glaube, sie hat Heinrich genommen.«
»Aye? Nun, vielleicht hast du recht«, sagte er mit belustigter Stimme. »Aber ich muss dir sagen, meinen letzten Informationen nach stand es fünf zu drei für Ronnie. Man darf Utes Einfluss nicht unterschätzen.«
»Das stimmt«, räumte Brianna ein. »Und wenn es Hilde oder Inge wären, würde ich sagen, sie hatten keine Chance. Aber Senga hat den Charakter ihrer Mutter; ihr schreibt niemand etwas vor – nicht einmal Ute. Wie sind sie eigentlich auf Senga gekommen?«, fügte sie hinzu. »In Salem gibt es massenweise Inges und Hildes, aber ich habe noch nie von einer anderen Senga gehört.«
»Nun ja, das kannst du auch nicht – nicht in Salem. Es ist kein deutscher Name, weißt du – er ist schottisch.«
»Schottisch?«, sagte sie erstaunt.
»Oh, aye«, und sie konnte ihm anhören, dass er grinste. »Es ist Agnes, rückwärts buchstabiert. Ein Mädchen mit so einem Namen muss doch ein Querkopf werden, meinst du nicht?«
»Das meinst du nicht ernst! Agnes rückwärts buchstabiert?«
»Ich behaupte ja nicht, dass es ein verbreiteter Name ist, aber ich habe in Schottland bestimmt schon ein oder zwei Sengas getroffen.«
Sie lachte.
»Machen die Schotten das mit anderen Namen auch?«
»Sie rückwärtsdrehen?« Er überlegte. »Na ja, ich war mit einem Mädchen in der Schule, das Adnil hieß, und im Lebensmittelladen hat ein Junge gearbeitet, der für die alten Damen in der Nachbarschaft den Botenjungen gespielt hat – sein Name wird ›Kirry‹ ausgesprochen, aber ›C-i-r-e‹ buchstabiert.«
Sie sah ihn scharf an, für den Fall, dass er sie aufzog, doch das tat er nicht. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, Mama hat recht, was die Schotten angeht. Dein Name rückwärts wäre dann also –«
»Regor«, bestätigte er. »Klingt wie eine Kreatur aus einem Godzilla-Film, nicht wahr? Ein Riesenaal vielleicht, oder ein Käfer, aus dessen Augen Todesstrahlen leuchten.« Er schien seinen Spaß an dieser Vorstellung zu haben.
»Darüber hast du schon öfter nachgedacht, nicht wahr?«, sagte sie lachend. »Was wärst du denn lieber?«
»Tja, als Kind fand ich den Käfer mit den Todesaugen besser«, gab er zu. »Dann bin ich zur See gefahren und habe die eine oder andere Muräne in meinem Netz an Bord gehievt. So einem Kerl würde man nicht gern in einer dunklen Gasse begegnen, das kannst du mir glauben.«
»Auf jeden Fall sind sie beweglicher als Godzilla«, sagte sie und erschauerte sacht bei der Erinnerung an die einzige Muräne, der sie je persönlich begegnet war. Knapp anderthalb Meter Federstahl und Gummi, schnell wie der Blitz und mit einem ganzen Maul voller Rasierklingen ausgestattet, war sie aus dem Frachtraum eines Fischerbootes ans Tageslicht gekommen, dem sie in einer kleinen Hafenstadt namens MacDuff beim Entladen zugesehen hatte.
Sie hatte mit Roger, auf eine niedrige Steinmauer gestützt, am Hafen gestanden und träge die Möwen beobachtet, die sich vom Wind tragen ließen, als ein Alarmruf auf dem Fischerboot genau unter ihnen ihre Blicke gerade rechtzeitig auf sich zog, um zu sehen, wie die Fischer Hals über Kopf vor irgendetwas an Deck flüchteten.
Eine dunkle Sinuskurve war durch die silberne Fischmasse an Deck geschossen, unter der Reling hindurchgeflitzt und auf den nassen Steinen des Kais gelandet, wo sie eine ähnliche Panik unter den Fischern auslöste, die dort ihre Ausrüstung mit Wasser abspritzten. Die Muräne hatte sich gewunden und um sich geschlagen wie ein durchgedrehtes Hochspannungskabel, bis ein Mann in Gummistiefeln sich ein Herz gefasst und sie mit einem Tritt zurück ins Wasser befördert hatte.
»Na ja, eigentlich sind Muränen gar nicht so übel«, sagte Roger sachlich, während er sich offensichtlich an dieselbe Szene erinnerte. »Zumindest kann man ihnen keine Vorwürfe machen; wenn man ohne Warnung vom Meeresboden an die Luft geschleift wird – da würde doch jeder um sich schlagen.«
»Das stimmt«, sagte sie und dachte dabei an Roger und sich selbst. Sie nahm seine Hand, verschlang ihre Finger mit den seinen und fand Trost in seinem festen, kalten Griff.
Sie waren jetzt nah genug, um Gelächter und Gesprächsfetzen aufzufangen, die in die kalte Nacht aufstiegen wie der Rauch des Feuers. Kinder rannten herum; sie sah zwei kleine Gestalten zwischen den Beinen der Menge am Feuer umherflitzen, schwarz und dünn wie Kobolde zu Halloween.
Das war doch wohl nicht Jem? Nein, er war kleiner, und Lizzie würde doch sicher nicht –
»Mej«, sagte Roger.
»Was?«
»Jem rückwärts«, erklärte er. »Ich habe nur gerade daran gedacht, was für einen Spaß es machen würde, mit ihm zusammen Godzilla-Filme zu sehen. Vielleicht wäre er ja gern der Käfer mit den Todesstrahlen. Das wäre doch toll, aye?«
Er klang so sehnsüchtig, dass es ihr die Kehle zuschnürte, und sie drückte ihm fest die Hand und schluckte.
»Erzähl ihm doch Godzilla-Geschichten«, sagte sie bestimmt. »Es sind sowieso Märchen. Ich zeichne ihm Bilder.«
Da lachte er.
»Himmel, mach das, und sie werden dich steinigen, weil du mit dem Teufel unter einer Decke steckst, Brianna. Godzilla sieht so aus, als stammte er direkt aus der Johannes-Offenbarung – so hat man mich zumindest informiert.«
»Wer hat dir das gesagt?«
»Eigger.«
»Wer … oh«, sagte sie und drehte das Wort in Gedanken um. »Reggie? Wer ist Reggie?«