»Der Reverend.« Sein Großonkel, sein Adoptivvater. In seiner Stimme lag immer noch ein Lächeln, doch jetzt war es mit nostalgischer Sehnsucht versetzt. »Als wir samstags zusammen in einem Monsterfilm waren. Eigger und Regor – und du hättest die Mienen des Pfarrdamenkränzchens sehen sollen, als Mrs. Graham sie ohne Ankündigung ins Haus gelassen hat und sie ins Studierzimmer des Reverends kamen, wo wir brüllend herumgestampft sind und unser Bauklotz- und Suppendosentokio zu Brei getrampelt haben.«
Sie lachte, spürte aber, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
»Ich wünschte, ich hätte den Reverend gekannt«, sagte sie und drückte seine Hand.
»Das wünschte ich auch«, sagte er leise. »Er hätte dich so gemocht, Brianna.«
Für ein paar Sekunden waren der dunkle Wald und das lodernde Feuer zurückgewichen, während er redete; sie waren in Inverness und hatten es sich im Studierzimmer des Reverends gemütlich gemacht, während der Regen ans Fenster klopfte und der Verkehr über die Straße rauschte. Es geschah so oft, wenn sie sich derart unterhielten, nur sie beide. Dann zerstörte eine Kleinigkeit den Augenblick – diesmal war es ein Ruf am Feuer, wo die Leute jetzt zu klatschen und zu singen begannen –, und die Welt ihrer eigenen Zeit verschwand im Bruchteil einer Sekunde.
Was wäre, wenn er nicht mehr da wäre, dachte sie plötzlich. Könnte ich sie ganz allein zurückholen?
Einen Moment lang wurde sie bei diesem Gedanken von elementarer Panik geschüttelt. Ohne Roger als ihren Prüfstein, nur durch ihre eigenen Erinnerungen in der Zukunft verankert, würde diese Zeit verschwinden. Sie würde sich in neblige Träume auflösen und verschwinden, und Brianna würde kein fester Boden der Realität bleiben, auf dem sie stehen konnte.
In tiefen Zügen atmete sie die kalte Nachtluft ein, bitter vom Holzrauch, und grub ihre Fußballen beim Gehen tief in den Boden, um etwas Handfestes zu spüren.
»MamaMamaMAMA!« Ein kleiner Klecks löste sich aus dem Gewimmel am Feuer und schoss auf sie zu. Er prallte so heftig gegen ihre Knie, dass sie sich an Rogers Arm festhielt.
»Jem! Da bist du ja!« Sie hob ihn auf und vergrub ihr Gesicht in seinem Haar, das angenehm nach Ziegen, Heu und herzhafter Wurst roch. Er war schwer und mehr als handfest.
Dann drehte sich Ute McGillivray um und sah sie. Ihr breites Gesicht war zu einem Stirnrunzeln verzogen, doch bei ihrem Anblick begann sie entzückt zu strahlen. Als sie ihnen einen Gruß zurief, drehten sich die Leute um, und sie wurden sofort von der Menge umringt, die sie mit Fragen überhäufte und freudige Überraschung über ihr Kommen ausdrückte.
Ein paar der Fragen betrafen die holländische Familie, doch Kenny Lindsay hatte die Nachricht von dem Brand schon überbracht; Brianna war froh darüber. Die Leute gaben Beileidsgeräusche von sich und schüttelten die Köpfe, doch inzwischen hatten sie den Großteil ihrer entsetzten Spekulationen durchdiskutiert und wandten sich anderen Dingen zu. Die Kälte der Gräber unter den Fichten lag ihr nach wie vor als kühler Hauch auf dem Herzen; sie hatte nicht den Wunsch, diese Erfahrung wieder greifbar zu machen, indem sie darüber redete.
Das frisch verlobte Paar saß gemeinsam auf einem Paar umgedrehter Eimer. Sie hielten Händchen, und ihre Gesichter strahlten selig im Schein des Lagerfeuers.
»Ich habe gewonnen«, sagte Brianna und lächelte bei ihrem Anblick. »Sehen sie nicht glücklich aus?«
»Das stimmt«, pflichtete Roger ihr bei. »Ich bezweifle aber, dass Ronnie Sinclair glücklich ist. Ist er hier?« Er sah sich um, doch der Küfer war nirgendwo in Sicht.
»Warte – er ist in seiner Werkstatt«, sagte sie und legte Roger eine Hand auf das Handgelenk, während sie kopfnickend zur anderen Straßenseite wies. Die Küferwerkstatt hatte auf dieser Seite keine Fenster, doch rings um die Ränder der geschlossenen Tür entwich ein schwaches Leuchten.
Roger ließ den Blick von der verdunkelten Werkstatt zu der feiernden Menge am Feuer wandern; viele von Utes Verwandten waren gemeinsam mit dem glücklichen Bräutigam und seinen Freunden aus Salem hergeritten, und sie hatten ein großes Fass Bier mitgebracht. Hefe und Hopfen schwängerten die Luft.
Im Gegensatz dazu hatte die Küferwerkstatt etwas Trostloses, Finsteres an sich. Sie fragte sich, ob Ronnie Sinclairs Abwesenheit schon irgendjemandem am Feuer aufgefallen war.
»Ich gehe zu ihm und unterhalte mich ein bisschen mit ihm, aye?« Roger berührte mit einer kurzen, liebevollen Geste ihren Rücken. »Vielleicht kann er ja ein mitfühlendes Ohr brauchen.«
»Das und etwas Hochprozentiges?« Sie deutete zum Haus, wo Robin McGillivray durch die geöffnete Tür zu sehen war. Er schenkte einem ausgewählten Freundeskreis etwas ein, was nach Whisky aussah.
»Das hat er sich bestimmt schon selbst besorgt«, erwiderte Roger trocken. Er ließ sie stehen und bahnte sich seinen Weg um die Feiernden am Feuer herum. Er verschwand in der Dunkelheit, doch dann sah sie, wie sich die Tür der Küferwerkstatt öffnete, Rogers Umriss kurz im Licht auftauchte, das von innen kam, und seine kräftige Gestalt das Licht blockierte, bevor er in der Werkstatt verschwand.
»Will trinken, Mama!« Jemmy zappelte wie eine Kaulquappe, um sich aus ihren Armen zu befreien. Sie setzte ihn auf den Boden, und er verschwand wie der Blitz, wobei er beinahe eine rundliche Dame mit einem Teller voll Maispfannkuchen zu Fall brachte.
Der Duft der dampfenden Küchlein erinnerte sie daran, dass sie noch nicht zu Abend gegessen hatte, und sie folgte Jemmy zu dem Tisch mit dem Essen, wo Lizzie ihr in ihrer Rolle als angehende Tochter des Hauses mit wichtiger Miene zu Sauerkraut, Würstchen, Eiern und einem Gericht verhalf, das Mais und Kürbis enthielt.
»Wo ist denn dein Liebster, Lizzie«, fragte sie scherzhaft. »Solltest du nicht mit ihm zusammen essen?«
»Oh, er?« Lizzie sah aus wie jemand, der sich an etwas erinnerte, das zwar generell von vagem Interesse, jedoch nicht von unmittelbarer Wichtigkeit war. »Manfred meinst du? Er ist … da drüben.« Sie kniff die Augen gegen den Schein des Feuers zu, dann deutete sie mit dem Löffel auf Manfred McGillivray. Ihr Verlobter war mit drei oder vier anderen jungen Männern zusammen, die einander untergehakt hatten und schunkelnd ein deutsches Lied sangen. Sie schienen Schwierigkeiten zu haben, sich an den Text zu erinnern, denn jede Zeile endete damit, dass sie sich kichernd und schubsend gegenseitig Vorwürfe machten.
»Hier, Schätzchen«, sagte Lizzie und beugte sich vor, um Jemmy ein Stück Wurst zu geben. Er schnappte den Leckerbissen auf wie eine hungrige Robbe und kaute emsig darauf herum, dann murmelte er: »Hill kinkeng«, und spazierte in die Nacht davon.
»Jem!« Brianna machte Anstalten, ihm nachzugehen, wurde jedoch durch eine Gruppe von Leuten aufgehalten, die auf den Tisch zusteuerten.
»Keine Sorge seinetwegen«, beruhigte Lizzie sie. »Es weiß doch jeder, wer er ist; ihm wird schon nichts zustoßen.«
Vielleicht wäre sie ihm dennoch gefolgt, doch dann sah sie einen kleinen Blondschopf neben ihm auftauchen. Germain, Fergus’ und Marsalis Ältester – und Jems Busenfreund. Germain war zwei Jahre älter und verfügte über einiges mehr an Weltgewandtheit als ein durchschnittlicher Fünfjähriger, was er zum Großteil dem Vorbild seines Vaters verdankte. Sie hoffte nur, dass er sich in der Menge nicht als Taschendieb betätigte, und nahm sich im Geiste vor, ihn später nach Diebesgut zu durchsuchen.
Germain hielt Jem fest an der Hand, und so ließ sie sich überreden, sich mit Lizzie, Inge und Hilde auf den Strohballen niederzulassen, die ein Stück vom Feuer entfernt auf dem Boden lagen.
»Und wo ist Euer Liebster?«, scherzte Hilde. »Der hübsche schwarze Teufel?«
»Oh, er?«, ahmte Brianna Lizzie nach, und sie brachen alle in höchst undamenhaftes Gelächter aus; offenbar machte das Bier schon länger die Runde.
»Er tröstet Ronnie«, sagte sie und drehte den Kopf in Richtung der dunklen Küferwerkstatt. »Ist Eure Mutter bestürzt über Sengas Wahl?«