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»Geht«, sagte ich mit halberstickter Stimme. »Geht wieder fort, Allan. Es hat schon zu viele Tote gegeben.«

Er war zu sehr in seinem Schmerz versunken, um mich zu hören; ich rüttelte ihn an der Schulter und wiederholte es mit noch mehr Nachdruck.

»Ihr könnt Euch nicht umbringen. Ich verbiete es Euch, hört Ihr?«

»Und wer seid Ihr, dass Ihr mir das sagen könnt?«, rief er und fuhr zu mir herum. Sein Gesicht war völlig verzerrt. »Ich kann nicht weiterleben, es geht nicht!«

Doch Tom Christie hatte sein Leben genauso für seinen Sohn gegeben wie für mich, ich konnte nicht zulassen, dass sein Opfer umsonst gewesen war.

»Ihr müsst«, sagte ich und stand auf. Mir war schwindelig, und ich war mir nicht sicher, ob meine Knie mich tragen würden. »Hört Ihr mich? Ihr müsst!«

Er sah auf, und sein Blick brannte durch die Tränen hindurch, aber er blieb stumm. Ich hörte ein helles Surren wie das Summen von Moskitos und einen leisen, plötzlichen Aufprall. Seine Miene änderte sich nicht, doch seine Augen erstarben ganz allmählich. Er verharrte einen Moment auf den Knien, beugte sich dann nach vorne wie eine Blüte, die sich an ihrem Stiel neigt, so dass ich den Pfeil sah, der mitten in seinem Rücken steckte. Er hustete ein einziges Mal auf und spuckte Blut, dann fiel er zur Seite und lag zusammengekrümmt auf dem Grab seiner Schwester. Seine Beine zuckten krampfhaft und erinnerten grotesk an die eines Froschs. Dann lag er still.

Ich weiß nicht, wie lange ich dastand und ihn verständnislos anstarrte. Mir wurde nur ganz allmählich bewusst, dass Ian aus dem Wald gekommen und mit geschultertem Bogen an meine Seite getreten war. Rollo stieß den Toten neugierig mit der Nase an und jaulte.

»Er hatte recht, Tante Claire«, sagte Ian leise. »Es geht nicht.«

Kapitel 123

Die Rückkehr des Wilden

Die alte Mrs. Abernathy sah so aus, als wäre sie mindestens hundertzwei. Unter Druck ließ sie sich eine Zweiundneunzig entlocken. Sie war fast blind und fast taub, von der Osteoporose wie eine Brezel gekrümmt, und ihre Haut war so dünn und empfindlich, dass der kleinste Kratzer sie wie Papier aufriss.

»Ich mag ja nur noch Haut und Knochen sein«, krächzte sie jedes Mal, wenn ich sie sah, und schüttelte ihren von einem Schlaganfall zittrigen Kopf. »Aber wenigstens habe ich noch fast alle Zähne.«

Wie durch ein Wunder stimmte das; ich ging davon aus, dass dies der einzige Grund war, warum sie so alt geworden war. Anders als die meisten Menschen ihres Alters war sie nicht gezwungen, nur von Porridge zu existieren, sondern konnte nach wie vor Fleisch und Gemüse kauen. Vielleicht war es die bessere Ernährung, die sie weiterleben ließ – vielleicht war es aber auch einfach nur Sturheit. Abernathy war der Name, den sie bei ihrer Hochzeit angenommen hatte, doch sie hatte mir anvertraut, dass sie eine geborene Fraser war.

Ich lächelte bei dem Gedanken daran, während ich ihr einen Verband um das Schienbein wickelte, das an ein Stöckchen erinnerte. Sie hatte fast kein Fleisch mehr an den Beinen und Füßen, die sich so hart und kalt anfühlten wie Holz. Sie hatte sich das Schienbein am Tisch gestoßen und sich einen fingerbreiten Hautstreifen abgerissen; eine so geringfügige Verletzung, dass sich ein jüngerer Mensch nichts dabei gedacht hätte – doch ihre Familie sorgte sich um sie und hatte nach mir geschickt.

»Es wird langsam heilen, aber wenn Ihr es sauber haltet – lasst sie um Gottes willen kein Schweinefett daraufschmieren –, wird es, glaube ich, wieder gut werden.«

Die »jüngere« Mrs. Abernathy – die selbst um die siebzig war – fixierte mich bei diesen Worten scharf. Genau wie ihre Schwiegermutter hegte sie großes Vertrauen in Schweinefett und Terpentin als Allheilmittel, doch sie nickte widerstrebend. Ihre Tochter, deren hochtrabender Name Arabella sehr viel gemütlicher zu Oma Belly abgekürzt worden war, grinste mich hinter ihrem Rücken an. Sie hatte weniger Glück mit ihren Zähnen gehabt – ihr Lächeln wies beachtliche Lücken auf –, doch sie war eine fröhliche, gutmütige Person.

»Willie B.«, instruierte sie einen ihrer Enkel, der etwa fünfzehn war, »geh doch bitte in den Kartoffelkeller, und hol einen kleinen Sack Rübchen für Mrs. Fraser.«

Wie üblich protestierte ich, doch alle Beteiligten waren sich sehr wohl bewusst, wie in solchen Fällen zu verfahren war. Und ein paar Minuten später befand ich mich um fünf Pfund Rübchen reicher auf dem Heimweg.

Wir konnten sie gut brauchen. Ich hatte mich zwar im Frühjahr nach Malvas Tod gezwungen, wieder in den Garten zu gehen – es ging nicht anders; Sentimentalität war ja gut und schön, aber wir mussten schließlich essen. Die darauffolgenden Turbulenzen und meine fortwährende Abwesenheit hatten allerdings zu einer schmerzlichen Vernachlässigung der Ernte geführt. Mrs. Bugs sämtlichen Bemühungen zum Trotz waren alle Rüben der Schwarzfäule oder irgendwelchen Parasiten zum Opfer gefallen.

Unsere Vorräte waren überhaupt arg geschmälert. Da Jamie und Ian so häufig unterwegs waren und keine Zeit für die Jagd oder die Ernte hatten und auch Brianna und Roger nicht mehr da waren, hatten wir nur halb so viel Getreide geerntet wie sonst, und im Räucherschuppen hing nur eine einzige traurige Hirschkeule. Wir benötigten fast das gesamte Getreide für uns selbst; wir konnten nichts eintauschen oder verkaufen, und an der Mälzerei standen lediglich ein paar einsame Säcke Gerste unter einem Stück Segeltuch. Wahrscheinlich würden sie faulen, dachte ich grimmig, weil niemand Zeit hatte, frisches Malz anzusetzen, bevor das kalte Wetter kam.

Nach dem katastrophalen Überfall eines Fuchses, der in den Hühnerstall eingebrochen war, erholte sich Mrs. Bugs Hühnerschar allmählich wieder – doch es ging sehr langsam, und wir bekamen nur hin und wieder ein widerstrebend entbehrtes Ei zum Frühstück.

Andererseits, so besann ich mich schon zuversichtlicher, hatten wir Schinken. Jede Menge Schinken. Und Unmengen Speck, Sülze, Schweineschnitzel, Steaks … ganz zu schweigen von Talg und Schmalz.

Dieser Gedanke brachte mich wieder auf das Schweinefett und die wimmelnde, beengte Gemütlichkeit der umeinandergescharten Hütten der Abernathys – und im Kontrast dazu die schreckliche Leere in unserem Haus.

Wie konnte an einem so bevölkerten Ort der Verlust von nur vier Menschen so viel bedeuten? Ich musste anhalten und mich an einen Baum lehnen, um den Schmerz über mich hinwegspülen zu lassen. Ich versuchte nicht, ihn zu unterdrücken. Ein Geist lässt sich nicht fernhalten, das hatte ich von Jamie gelernt. Lass ihn herein.

Ich ließ die Geister ein – ich konnte ja gar nicht anders. Und ich tröstete mich, so gut ich konnte, mit dem Wissen – nein, so sagte ich mir entschlossen, ich hoffte es nicht, ich wusste es –, dass sie gar keine Geister waren. Nicht tot, sondern nur … anderswo.

Nach ein paar Minuten begann die überwältigende Trauer nachzulassen, langsam wie die abebbende Flut. Manchmal legte sie Schätze frei; kleine, vergessene Bilder von Jemmys honigverschmiertem Gesicht, Briannas Gelächter, Rogers geschickten Händen, die mit dem Messer eins dieser kleinen Autos schnitzten – das kleine Haus war immer noch damit übersät – und dann auf einem vorübergereichten Teller einen Muffin aufspießten. Wenn es mir auch frischen Schmerz verursachte, die Bilder zu betrachten, so hatte ich sie doch zumindest und konnte sie in meinem Herzen aufbewahren, denn irgendwann, das wusste ich, würden sie mich trösten.

Ich holte Luft und spürte, wie die Enge in meiner Brust und meiner Kehle nachließ. Amanda war nicht die Einzige, die von moderner Operationstechnik profitieren konnte, dachte ich. Ich wusste nicht, was sich möglicherweise für Rogers Stimmbänder tun ließ, aber vielleicht … und doch war seine Stimme ja jetzt schon gut gewesen. Voll und tönend, wenn auch rauh. Vielleicht würde er sich ja dafür entscheiden, sie so zu lassen, wie sie war – er hatte darum gekämpft und sie sich verdient.