»Ach, du lieber Himmel«, sagte ich. »Der verflixte Timmy ist in den Brunnen gefallen!« Ich stürzte die Stufen hinunter und rannte den Pfad entlang. Den erschrockenen Fluch des Majors hinter mir bekam ich kaum mit.
Ich fand Ian ein paar hundert Meter weiter, bei Bewusstsein, aber benommen. Er saß mit geschlossenen Augen auf dem Boden und hielt sich mit beiden Händen den Kopf, als wollte er verhindern, dass die Knochen seines Schädels auseinanderfielen. Er öffnete die Augen, als ich neben ihm auf die Knie sank, und lächelte mich verschwommen an.
»Tante Claire«, sagte er heiser. Er schien noch etwas sagen zu wollen, schien sich aber nicht entscheiden zu können, was: Sein Mund öffnete sich, blieb dann aber einfach so, während sich seine Zunge nachdenklich hin und her bewegte.
»Sieh mich an, Ian«, sagte ich so ruhig wie möglich. Das tat er – gut so. Es war zwar zu dunkel, um sehen zu können, ob seine Pupillen unnatürlich erweitert waren, doch selbst im abendlichen Schatten der Kiefern am Wegrand konnte ich seine blasse Gesichtsfarbe und die dunkle Blutspur sehen, die sich über sein Hemd zog.
Eilige Schritte kamen hinter mir den Pfad entlang; Jamie, dicht gefolgt von MacDonald.
»Wie geht’s dir, Junge?«
Jamie fasste ihn am Arm, und Ian schwankte sacht auf ihn zu. Dann ließ er die Hände sinken, schloss die Augen und ließ sich mit einem Seufzer in Jamies Arme fallen.
»Ist es schlimm?«, fragte Jamie angstvoll über Ians Schulter hinweg, während er ihn aufrecht hielt, damit ich ihn hastig untersuchen konnte. Der Rücken seines Hemdes war mit getrocknetem Blut durchtränkt – aber es war getrocknet. Sein Pferdeschwanz war ebenfalls ganz steif davon, und ich fand die Kopfverletzung schnell.
»Ich glaube nicht. Irgendetwas hat ihn heftig am Kopf getroffen und ihm ein Stück Kopfhaut entfernt, aber –«
»Ein Tomahawk vielleicht?«
MacDonald beugte sich gebannt über uns.
»Nein«, sagte Ian schläfrig, das Gesicht gegen Jamies Hemd gedrückt. »Eine Kugel.«
»Fort mit dir, Hund«, sagte Jamie knapp zu Rollo, der Ian die Nase ins Ohr gesteckt hatte, was ein unterdrücktes Quietschen des Patienten und eine unwillkürliche Bewegung seiner Schultern zur Folge hatte.
»Ich werde es mir bei Licht betrachten, aber wahrscheinlich ist es nicht so schlimm«, sagte ich, als ich das sah. »Er ist schließlich ein ganzes Stück gelaufen. Lasst ihn uns zum Haus schaffen.«
Die Männer legten Ians Arme über ihre Schultern, um ihn den Weg entlangzubefördern, und innerhalb weniger Minuten lag er mit dem Gesicht nach unten auf dem Tisch in meinem Sprechzimmer. Hier erzählte er uns seine Abenteuer, unterbrochen von leisen Schmerzenslauten, weil ich dabei die Wunde reinigte, verklumpte Haare wegschnitt und ihm mit fünf oder sechs Stichen die Kopfhaut nähte.
»Ich dachte schon, ich wäre tot«, sagte Ian und sog die Luft durch die Zähne ein, als ich den groben Faden durch die unregelmäßigen Wundränder zog. »Himmel, Tante Claire! Aber am Morgen bin ich aufgewacht und war doch nicht tot – obwohl ich das Gefühl hatte, mein Kopf wäre gespalten und das Hirn liefe mir über den Hals.«
»Es hat auch nicht viel gefehlt«, murmelte ich und konzentrierte mich auf meine Arbeit. »Ich glaube aber nicht, dass es eine Kugel war.«
Damit war mir die Aufmerksamkeit aller gewiss.
»Ich bin nicht angeschossen?« Ian klang schwach entrüstet. Er hob seine kräftige Hand, die auf seinen Hinterkopf zuwanderte, und ich schlug sie sacht beiseite.
»Halt still. Nein, du bist nicht angeschossen – nicht, dass du etwas dazu könntest. Es war einiges an Schmutz in der Wunde und Holz- und Rindensplitter. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, einer der Schüsse hat einen abgestorbenen Ast von einem Baum gelöst, und der hat dich im Fallen am Kopf getroffen.«
»Und Ihr seid Euch ganz sicher, dass es kein Tomahawk gewesen ist?« Auch der Major schien enttäuscht zu sein.
Ich zog den letzten Knoten zu, schnitt das Fadenende ab und schüttelte den Kopf.
»Ich habe, glaube ich, noch nie eine Tomahawkwunde gesehen, aber ich glaube es nicht. Seht Ihr, wie gezackt die Wundränder sind? Und die Kopfhaut ist zwar weit aufgerissen, aber ich glaube nicht, dass der Knochen gebrochen ist.«
»Es war stockfinster, hat der Junge gesagt«, warf Jamie in aller Logik ein. »Kein vernünftiger Mensch würde in einem dunklen Wald einen Tomahawk auf etwas werfen, das er nicht sehen kann.« Er hielt mir die Alkohollampe, damit ich in ihrem Schein arbeiten konnte; er hielt sie dichter an Ians Kopf, so dass wir nicht nur die gezackte Naht sehen konnten, sondern ebenso den blauen Fleck, der sich um sie herum ausbreitete und jetzt klar zu erkennen war, weil ich dort die Haare abgeschnitten hatte.
»Aye, seht Ihr?« Jamies Finger bog die verbleibenden Stoppeln sanft zur Seite und zeichnete einige tiefe Kratzer nach, die die blaue Fläche durchschnitten. »Deine Tante hat recht, Ian; du bist von einem Baum attackiert worden.«
Ian öffnete ein Auge einen Spaltbreit.
»Hat dir schon einmal jemand gesagt, was für ein Scherzbold du bist, Onkel Jamie?«
»Nein.«
Ian schloss das Auge wieder.
»Macht nichts, denn es stimmt auch nicht.«
Jamie lächelte und drückte Ian die Schulter.
»Dann geht es dir ein bisschen besser?«
»Nein.«
»Nun, die Sache ist doch so«, unterbrach Major MacDonald, »dass der Junge auf irgendwelche Banditen gestoßen ist, nicht wahr? Hatte er Grund zu der Annahme, dass es Indianer waren?«
»Nein«, wiederholte Ian, doch diesmal öffnete er das Auge ganz. Es war blutunterlaufen. »Es waren keine Indianer.«
Diese Antwort schien MacDonald nicht zu gefallen.
»Wie könnt Ihr Euch da so sicher sein, Junge«, fragte er scharf. »Wenn es doch dunkel war, wie Ihr sagt.«
Ich sah, wie Jamie dem Major einen fragenden Blick zuwarf, doch er unterbrach ihn nicht. Ian stöhnte leise, dann seufzte er auf und antwortete.
»Ich habe sie gerochen«, sagte er und fügte hastig hinzu: »Ich glaube, ich muss mich übergeben.«
Er stützte sich auf einen Ellbogen und setzte die Worte prompt in die Tat um. Dies bereitete allen weiteren Fragen ein Ende, und Jamie führte Major MacDonald in die Küche und überließ es mir, Ian zu waschen und es ihm so bequem wie möglich zu machen.
»Kannst du beide Augen öffnen?«, fragte ich, als er wieder sauber war und auf der Seite lag, ein Kissen unter dem Kopf.
Er tat es und blinzelte ein wenig im Licht. Die kleine blaue Flamme der Alkohollampe spiegelte sich zweimal im Dunkel seiner Augen, doch die Pupillen verengten sich sofort – und gleichzeitig.
»Das ist gut«, sagte ich und stellte die Lampe auf den Tisch. »Lass das, Hund«, sagte ich zu Rollo, der an der fremd riechenden Lampe schnüffelte – sie brannte mit einer Mischung aus verdünntem Brandy und Terpentin. »Nimm meine Finger, Ian.«
Ich hielt ihm meine Zeigefinger hin, und er umschlang sie langsam mit seinen großen, knochigen Händen. Ich überprüfte ihn auf die übliche Weise auf neurologische Schäden, indem ich ihn zudrücken, ziehen und schieben ließ, und hörte abschließend sein Herz ab, das beruhigend vor sich hin klopfte.
»Leichte Concussio«, verkündete ich. Ich richtete mich auf und lächelte ihn an.
»Oh, aye?«, fragte er und sah zwinkernd zu mir auf.
»Es bedeutet, dass du Kopfschmerzen hast und dir schlecht ist. In ein paar Tagen geht es dir besser.«
»Das hätte ich dir gleich sagen können«, murmelte er und legte sich zurück.
»Das stimmt«, pflichtete ich ihm bei. »Aber Concussio klingt doch sehr viel wichtiger als angeknackster Kopf, oder?«
Er lachte nicht, lächelte aber schwach als Erwiderung. »Kannst du Rollo etwas zu fressen geben, Tante Claire? Er ist unterwegs nicht von meiner Seite gewichen; er hat bestimmt Hunger.«