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Schwarz ist am Zug. Ruhig sitzt der Fremde da und rollt die Zigarette zwischen den Fingern. Er überlegt jetzt etwas länger als sonst, vielleicht eine, vielleicht zwei Minuten. Es ist vollkommen still. Keiner der Umstehenden wagt es zu flüstern, kaum einer schaut noch aufs Schachbrett, alles starrt gespannt auf den jungen Mann, auf seine Hände und auf sein bleiches Gesicht. Sitzt da nicht schon ein winziges triumphierendes Lächeln in den Winkeln seiner Lippen? Erkennt man nicht ein ganz kleines Schwellen der Nasenflügel, wie es den großen Entschlüssen vorangeht? Was wird der nächste Zug sein? Zu welchem vernichtenden Schlag holt der Meister aus?

Da hört die Zigarette zu rollen auf, der Fremde beugt sich vor, ein Dutzend Augenpaare folgen seiner Hand – was wird sein Zug sein, was wird sein Zug sein?.. und nimmt den Bauern von G7 – wer hätte das gedacht! Den Bauern von G7! – den Bauern von G7 auf… G6!

Es folgt eine Sekunde absoluter Stille. Selbst der alte Jean hört für einen Moment zu zittern und zu wetzen auf. Und dann fehlt wenig, daß unter dem Publikum Jubel ausbricht! Man bläst den angehalteten Atem aus, man stößt dem Nachbarn mit dem Ellbogen in die Seite, habt ihr das gesehen? Was für ein ausgebuffter Bursche! Ça alors! Läßt die Dame Dame sein und zieht einfach diesen Bauern auf G6! Das macht natürlich G7 frei für seinen Läufer, soviel steht fest, und im übernächsten Zug bietet er Schach, und dann… Und dann?.. Dann? Nunja – dann… dann ist Jean auf jeden Fall in kürzester Zeit erledigt, soviel steht fest. Seht doch nur, wie angestrengt er schon nachdenkt!

Und in der Tat, Jean denkt. Ewig lange denkt er. Es ist zum Verzweifeln mit dem Mann! Manchmal zuckt seine Hand schon vor – und zieht sich wieder zurück. Nun komm schon! Zieh endlich, Jean! Wir wollen den Meister sehen!

Und endlich, nach fünf langen Minuten, man scharrt schon mit den Füßen, wagt es Jean zu ziehen. Er greift die Dame an. Mit einem Bauern greift er die schwarze Dame an. Will mit diesem hinhaltenden Zug seinem Schicksal entgehen. Wie kindisch! Schwarz braucht seine Dame doch nur um zwei Felder zurückzunehmen, und alles ist beim alten. Du bist am Ende, Jean! Dir fällt nichts mehr ein, du bist am Ende…

Denn Schwarz greift – siehst du, Jean, da braucht er gar nicht lange nachzudenken, jetzt geht es Schlag auf Schlag! – Schwarz greift zur… – und da bleibt allen für einen Moment das Herz stehen, denn Schwarz, wider alle offenbare Vernunft, greift nicht zur Dame, um sie dem lächerlichen Angriff des Bauern zu entziehen, sondern Schwarz führt seinen vorgefaßten Plan aus und setzt den Läufer auf G7.

Sie sehen ihn fassungslos an. Sie treten alle einen halben Schritt zurück wie aus Ehrfurcht und sehen ihn fassungslos an: Er opfert seine Dame und stellt den Läufer auf G7! Und er tut es in vollem Bewußtsein und unbeweglichen Gesichts, ruhig und überlegen dasitzend, blaß, blasiert und schön. Da wird ihnen feucht in den Augen und warm ums Herz. Er spielt so, wie sie spielen wollen und nie zu spielen wagen. Sie begreifen nicht, warum er so spielt wie er spielt, und es ist ihnen auch egal, ja sie ahnen womöglich, daß er selbstmörderisch riskant spielt. Aber sie wollen trotzdem so spielen können wie er: großartig, siegesgewiß, napoleonesk. Nicht wie Jean, dessen ängstliches zögerndes Spiel sie begreifen, da sie selber nicht anders spielen als er, nur weniger gut; Jeans Spiel ist vernünftig. Es ist ordentlich und regelrecht und enervierend fad. Der Schwarze dagegen schafft mit jedem Zug Wunder. Er bietet die eigene Dame zum Opfer, nur um seinen Läufer auf G7 zu stellen, wann hätte man so etwas schon einmal gesehen? Sie stehen zutiefst gerührt vor dieser Tat. Jetzt kann er spielen, was er will, sie werden ihm Zug für Zug folgen bis zum Ende, mag es strahlend oder bitter sein. Er ist jetzt ihr Held, und sie lieben ihn.

Und selbst Jean, der Gegner, der nüchterne Spieler, als er mit bebender Hand den Bauern zum Damenschlag führt, zögert wie aus Scheu vor dem strahlenden Helden und spricht, sich leise entschuldigend, bittend fast, daß man ihn zu dieser Tat nicht zwingen möge: »Wenn Sie sie mir geben, Monsieur… ich muß ja… ich muß…«, und wirft einen flehenden Blick zu seinem Gegner. Der sitzt mit steinerner Miene und antwortet nicht. Und der Alte, zerknirscht, zerschmettert, schlägt.

Einen Augenblick später bietet der schwarze Läufer Schach. Schach dem weißen König! Die Rührung der Zuschauer schlägt um in Begeisterung. Schon ist der Damenverlust vergessen. Wie ein Mann stehen sie hinter dem jungen Herausforderer und seinem Läufer. Schach dem König! So hätten sie auch gespielt! Ganz genau so, und nicht anders! Schach! – Eine kühle Analyse der Stellung würde ihnen freilich sagen, daß Weiß eine Fülle von möglichen Zügen zu seiner Verteidigung hat, aber das interessiert niemand mehr. Sie wollen nicht mehr nüchtern analysieren, sie wollen jetzt nur noch glänzende Taten sehen, geniale Attacken und mächtige Streiche, die den Gegner erledigen. Das Spiel – dieses Spiel – hat für sie nur noch den Sinn und das eine Interesse: den jungen Fremden siegen und den alten Matador am Boden vernichtet zu sehen.

Jean zögert und überlegt. Er weiß, daß keiner mehr einen Sou auf ihn setzen würde. Aber er weiß nicht, warum. Er versteht nicht, daß die andern – doch alle erfahrene Schachspieler – die Stärke und Sicherheit seiner Stellung nicht erkennen. Dazu besitzt er ein Übergewicht von einer Dame und drei Bauern. Wie können sie glauben, daß er verliert? Er kann nicht verlieren! – Oder doch? Täuscht er sich? Läßt seine Aufmerksamkeit nach? Sehen die anderen mehr als er? Er wird unsicher. Vielleicht ist schon die tödliche Falle gestellt, in die er beim nächsten Zug tappen soll. Wo ist die Falle? Er muß sie vermeiden. Er muß sich herauswinden. Er muß auf jeden Fall seine Haut so teuer wie möglich verkaufen…

Und noch bedächtiger, noch zögernder, noch ängstlicher an die Regeln der Kunst sich klammernd, erwägt und berechnet Jean und entschließt sich dann, einen Springer so abzuziehen und zwischen König und Läufer zu stellen, daß nun seinerseits der schwarze Läufer im Schlagbereich der weißen Dame steht.

Die Antwort von Schwarz kommt ohne Verzögerung. Schwarz bricht den gestoppten Angriff nicht ab, sondern führt Verstärkung heran: sein Pferd deckt den angegriffenen Läufer. Das Publikum jubelt. Und nun geht es Schlag auf Schlag: Weiß holt einen Läufer zu Hilfe, Schwarz wirft einen Turm nach vorn, Weiß bringt sein zweites Pferd, Schwarz seinen zweiten Turm. Beide Seiten massieren ihre Kräfte um das Feld, auf dem der schwarze Läufer steht, das Feld, auf dem der Läufer ohnehin nichts mehr auszurichten hätte, ist zum Zentrum der Schlacht geworden – warum, man weiß es nicht, Schwarz will es so. Und jeder Zug, mit dem Schwarz weiter eskaliert und einen neuen Offizier heranführt, wird jetzt vom Publikum ganz offen und laut bejubelt, jeder Zug, mit dem Weiß sich notgedrungen verteidigt, mit unverhohlenem Murren quittiert. Und dann eröffnet Schwarz, wiederum gegen alle Regeln der Kunst, einen mörderischen Abtauschreigen. Für einen an Kräften unterlegenen Spieler – so sagt es das Lehrbuch – kann ein solch rigoroses Gemetzel schwerlich von Vorteil sein. Doch Schwarz beginnt es trotzdem, und das Publikum jauchzt. Eine solche Schlachterei hat man noch nicht erlebt. Rücksichtslos mäht Schwarz alles nieder, was sich in Schlagweite befindet, achtet die eignen Verluste für nichts, reihenweise sinken die Bauern, sinken unter frenetischem Beifall des kundigen Publikums Pferde, Türme und Läufer…