Jules Verne
Ein Kapitän von 15 Jahren
Erster Theil.
Erstes Capitel.
Die Brigg-Goëlette »Pilgrim«.
Am 2. Februar 1873 befand sich die Brigg-Goëlette »Pilgrim« unter 43°57’ südlicher Breite und 165°19’ westlicher Länge von Greenwich.
Dieses vier hundert Tonnen große, in San-Francisco für die Großfischerei in den australischen Meeren ausgerüstete Fahrzeug gehörte James W. Weldon, einem reichen, kalifornischen Rheder, der das Commando desselben schon seit mehreren Jahren dem Kapitän Hull anvertraut hatte.
Der »Pilgrim« war eines der kleinsten, aber auch eines der besten Schiffe der Flottille, welche James W. Weldon Jahr für Jahr sowohl hinauf durch die Behringsstraße in das nördliche Eismeer, als auch nach den Meeren von Tasmanien und des Cap Horn bis hinab in den Antarktischen Ocean aussendete. Kapitän Hull wußte sich schon »durchzuschlagen«, wie die Matrosen sagten, wenn er zwischen das Eis gerieth, das während des Sommers an Neu-Seeland oder am Cap der Guten Hoffnung vorüber bis in weit niedrigere Breiten hinaustreibt, als in den nördlichen Meeren der Erdkugel. Allerdings handelte es sich hier nur um Eisberge von geringerem Umfange, welche schon durch wiederholten Anprall zerklüftet, sowie vom warmen Wasser angenagt waren und von denen die größte Menge im Pacifischen oder Atlantischen Ocean zum schmelzen kommt.
Unter dem Befehle des Kapitäns Hull, eines ausgezeichneten Seemannes und dazu eines der gewandtesten Harpuniere der Flottille, stand eine Bedienung von fünf Matrosen und einem Leichtmatrosen. Das mag für den Walfischfang, der zahlreiche Hände sowohl beim Fange als bei der Ausweidung dieser Meeresriesen verlangt, etwas zu wenig sein. James W. Weldon fand es aber, nach dem Beispiel mancher anderer Rheder in San-Francisco, für vortheilhafter, nur die zur eigentlichen Führung des Schiffes nothwendigen Matrosen im Heimatshafen an Bord zu nehmen. In Neu-Seeland braucht man keinen Mangel zu fürchten an Harpunieren und Seeleuten aller Nationen, Deserteuren und Anderen, welche sich für die Dauer der Saison zu vermiethen suchen und als Fischer recht brauchbar sind. Nach Schluß der Fangzeit zahlt man ihnen den bedungenen Lohn, schifft sie wieder aus und Jene warten dann, bis die Walfischfahrer im nächsten Jahre ihre Dienste wieder in Anspruch nehmen. Dieses Verfahren gestattet eine bessere Ausnutzung disponibler Seeleute und sichert bei geordneter Zusammenwirkung mit jenen einen höheren Nutzen.
In dieser Weise ward es also auch an Bord des »Pilgrim« gehalten.
Die Brigg-Goëlette hatte sich während der Fangzeit an der Grenze des südlichen Polarkreises aufgehalten. Noch ermangelte sie jedoch ihrer vollen Ladung an Oel und rohen und verarbeiteten Vorräthen. Zur Zeit wurde der Fang schon schwieriger. Die Cetaceen erschienen in Folge der hartnäckigen Jagd auf sie merklich seltener. Der gewöhnliche Walfisch, im nördlichen Ocean der »Nordkaper«, im südlichen »Sulpherboltone« genannt, schien gänzlich verschwinden zu wollen. Die Fischer mußten sich nothgedrungen auf den »Finnback« oder Schnabelfisch, ein gigantisches Wassersäugethier, dessen Angriffe nicht ohne Gefahr sind, beschränken.
Auch Kapitän Hull hatte das im Laufe dieser Campagne gethan, rechnete aber darauf, sich bei der nächsten Reise nach höheren Breiten zu begeben, wenn es sein müßte bis nach Clavie-und Adelie-Land, deren durch den Amerikaner Wilkes bestätigte Entdeckung dem berühmten Commandanten der »Astrolabe« und der »Zélée«, dem Franzosen Dumont d’Urville, zu danken ist.
Kurz, die Saison war für den »Pilgrim« keine gewinnreiche, glückliche gewesen. Schon Anfangs Januar, zur Zeit, wo die Walfischfahrer noch nicht an die Heimkehr zu denken pflegen, sah sich Kapitän Hull genöthigt, die Fischgründe zu verlassen. Seine Mannschaft – ein zusammengewürfelter Hause zweifelhafter Subjecte – machte »Schwierigkeiten«, wie man sagt, und er mußte daran denken, sie an’s Land zu setzen.
Der »Pilgrim« drehte also nach Nordwesten bei, in der Richtung auf Neu-Seeland, das er am 15. Januar in Sicht bekam. Er lief glücklich in Waitemata, dem Hafen von Auckland, der am Grunde des Golfes von Chouraki, an der Ostküste der nördlichen Insel liegt, ein und schiffte die für die Saison engagirten Fischer aus.
Die Mannschaft war nicht besonders zufrieden. An der vollen Ladung des »Pilgrim« fehlten etwa zweihundert Baril Leberthran. Nie hatte der Fischfang einen so geringen Ertrag geliefert. Der Kapitän Hull kehrte wirklich fast mit der verdrießlichen Enttäuschung zurück wie etwa ein Jäger, der zum ersten Male »Schneider« geworden ist. Seine reizbare Eigenliebe kam hier in’s Spiel und er konnte jenen Schurken nicht verzeihen, deren Insubordination ihn um den Erfolg der Campagne gebracht hatte.
Der Versuch, in Auckland eine andere Mannschaft zu heuern, wäre gewiß vergeblich gewesen. Alle disponiblen Seeleute waren auf anderen Walfischfahrern gedungen. Er mußte also auf die Vervollständigung der Ladung des »Pilgrim« verzichten, und so beschloß Kapitän Hull denn, Auckland definitiv zu verlassen, als an ihn ein Gesuch um einen Platz auf dem Schiffe erging, welches abzulehnen er außer Stande war.
Mistreß Weldon, die Gattin des Rheders des »Pilgrim«, ihr fünfjähriger Sohn Jack und ein Anverwandter der Familie, den man nur den Vetter Benedict nannte, befanden sich derzeit in Auckland. James W. Weldon, den seine Handelsverbindungen öfters nach Neu-Seeland führten, hatte diese drei Personen mit dorthin genommen und auch die Absicht gehabt, sie wieder nach San-Francisco zurückzugeleiten.
Gerade als die ganze Familie abreisen wollte, erkrankte der kleine Jack ziemlich ernstlich, und sein Vater, den unabweisliche Geschäfte abriefen, mußte Auckland verlassen, wo er seine Frau, sein Kind und den Vetter Benedict zurückließ.
So verflossen drei Monate – drei lange Monate der Trennung, welche Mistreß Weldon im höchsten Grade peinlich waren. Indeß ihr Kind erholte sich wieder und sie stand im Begriff abzureisen, als ihr die Ankunft des »Pilgrim« gemeldet wurde.
Um zu dieser Jahreszeit nach San-Francisco zurückzukehren, hätte Mistreß Weldon nothwendiger Weise erst nach Australien gehen und dort eines der Dampfboote der Transoceanischen Gesellschaft des »Golden Age« benützen müssen, welche den Dienst zwischen Melbourne und Panama über Papaïti versehen. In Panama mußte sie dann wiederum erst einen amerikanischen Steamer abwarten, wie solche die regelmäßige Verbindung zwischen der Landenge und Kalifornien unterhalten. Hiermit waren nothwendiger Weise Zeitverluste und mehrfaches Umhertransportiren der Effecten verbunden, was für eine Dame und ein Kind stets verdrießlich ist. Als ihr Entschluß schon gefaßt war, warf der »Pilgrim« auf der Rhede von Auckland Anker. Sie zögerte keinen Augenblick, sich beim Kapitän Hull zur Ueberfahrt zu melden, sich selbst, ihren Sohn, den Vetter Benedict und Nan, eine bejahrte Negerin, welche ihr schon seit ihrer Kindheit diente. Dreitausend Seemeilen auf einem Segelschiffe!
Dieser Wissenschaft opferte er alle Stunden. (S. 13.)
Doch Kapitän Hull’s Schiff erschien ja im besten Zustande und noch währte die schöne Jahreszeit zu beiden Seiten der Linie an. Kapitän Hull kam dem Gesuche entgegen und stellte der Dame sofort sein eigenes Zimmer zur Disposition. Er wünschte Mistreß Weldon für eine Ueberfahrt, welche vierzig bis fünfzig Tage beanspruchen konnte, so gut untergebracht zu sehen, als das auf einem Walfischfahrer eben möglich war.
Der Mistreß Weldon bot die Ueberfahrt unter diesen Bedingungen also gewiß mehrfache Vortheile. Die einzige Unbequemlichkeit lag allein darin, daß die Fahrt deshalb eine etwas lange werden mußte, weil der »Pilgrim« seinen Cargo erst im Hafen von Valparaiso in Chili zu löschen hatte. Nachher brauchte er nur längs der Küste Amerikas hinauszusegeln, was bei den dort vorherrschenden Landwinden meist sehr angenehm ist.