»Ah, Du Schurke! Jetzt endlich werd ich Dich erwürgen!«
Das erwies sich jedoch unnöthig. Der Portugiese gab kein Lebenszeichen mehr von sich; an der Stelle des früheren Verbrechens selbst hatte ihn die göttliche Wiedervergeltung zu erreichen gewußt. Auch der treue Hund war indeß tödtlich getroffen und verendete, sich noch bis zur Hütte schleppend, auf derselben Stelle, wo Samuel Vernon gestorben war.
Tief in die Erde vergrub Herkules die Reste von dem Reisenden, und auch Dingo wurde, unter herzlichem Bedauern Aller, mit seinem Herrn in dieselbe Grube gelegt.
Negoro existirte nun zwar nicht mehr; die Eingebornen aber, welche ihn von Kazonnde her begleiteten, konnten von hier nicht fern sein. Trafen sie nun jenen nicht wieder, so suchten sie ihn gewiß längs des Flußufers. Hierin lag eine ernstliche Gefahr.
Dick Sand und Mrs. Weldon berathschlagten also, was jetzt zu thun, und was ohne einen Augenblick zu verlieren zu thun sei.
Eines wußten Sie nun sicher, daß dieser Wasserlauf der Congo sei, den die Eingebornen Kwango oder Ikutu ya Kongo nennen und der unter gewissen Breitengraden den Zaïre, unter anderen den Loualaba darstellt. Es war das jene große Pulsader Central-Afrikas, der die Geographen jetzt den Namen »Stanley« geben sollten, zu Ehren des kühnen amerikanischen Journalisten, der vier Jahre später ihren Lauf feststellte.
Konnte man aber nicht mehr daran zweifeln, den Congo vor sich zu haben, so meldeten doch die Zeilen des französischen Reisenden, daß seine Mündung noch 120 Meilen von hier entfernt sei, und zum Unglück war der Strom hier nicht schiffbar. Mächtige Fälle – wahrscheinlich die Katarakten von Niemo – machten hier unbedingt jeder Beschiffung des Stromes ein Ende. Man sah sich also gezwungen, dem einen oder dem anderen Ufer zu folgen, mindestens bis unterhalb der Fälle, vielleicht ein oder zwei Meilen weit, um dann vielleicht ein Floß zu bauen und sich auf diesem nochmals von der Strömung hinabtragen zu lassen.
»So wäre nun, sagte schließlich Dick Sand, zu unterscheiden, ob wir auf dem linken Flußufer, auf dem wir uns befinden, oder auf dem rechten weiter gehen sollen. Mir erscheinen beide gefährlich, Mistreß Weldon, denn jedenfalls haben wir Eingeborne überall zu fürchten. Doch denke ich, laufen wir hier noch größere Gefahr, da wir den Begleitmannschaften Negoro’s in den Weg kommen können.
– Setzen wir also nach dem anderen Ufer über, sagte Mrs. Weldon.
– Ja, aber wird das auch gangbar sein? warf Dick Sand ein. Der Weg nach den Congo-Mündungen läuft offenbar an diesem linken Ufer hin, da Negoro diesen einschlug. Doch, wie dem auch sei, wir dürfen nicht zaudern. Vor der Ueberschreitung des Flusses aber, Mistreß Weldon, will ich mich überzeugen, ob wir drüben bis unterhalb der Wasserfälle gelangen können.«
Gewiß erschien das rathsam und Dick Sand wollte sein Vorhaben auch sofort ausführen.
Der Strom maß an dieser Stelle nur 150 bis 200 Schritte in der Breite, und es mußte für den jungen Matrosen, der ja mit dem Ruder umzugehen wußte, ein Leichtes sein, über denselben zu setzen. Mrs. Weldon, Jack und Vetter Benedict sollten bis zu seiner Rückkehr unter Herkules’ Schutze zurückbleiben.
Nach dieser Vereinbarung wollte Dick Sand eben abstoßen, als Mrs. Weldon zu ihm sagte:
»Du fürchtest doch nicht, nach den Fällen hin gezogen zu werden, Dick?
– Nein, Mistreß Weldon, ich fahre zweihundert Schritt vor denselben hinüber.
– Doch am anderen Ufer?…
– Lege ich gar nicht an, wenn sich die geringste Gefahr zeigt.
– Nimm das Gewehr mit.
– Das thu’ ich, doch beunruhigen Sie sich meinetwegen nicht.
– Vielleicht wär’ es besser, uns nicht zu trennen, fügte Mrs. Weldon, wie von einem Vorgefühl getrieben, hinzu.
– Nein… lassen Sie mich allein gehen… erwiderte Dick Sand. Die Sicherheit Aller erfordert es. Vor Ablauf einer Stunde bin ich wieder hier. Haltet sorgsam Wacht, Herkules!«
Das Boot wurde losgemacht und trug Dick Sand nach dem anderen Ufer des Zaïre.
Im Papyrusdickicht verborgen, folgten ihm Mrs. Weldon und Herkules mit den Augen.
Bald hatte Dick Sand die Mitte des Stromes erreicht. Ohne gerade sehr stark zu sein, nahm die Strömung dort, durch den Zug der Wasserfälle, doch ein wenig zu. Zweihundert Schritte stromaufwärts erschütterte das Donnern und Brausen der Fluth die ganze Atmosphäre und ein seiner Staubregen fiel, vom Westwind getrieben, auf den jungen Leichtmatrosen nieder. Er zitterte noch bei dem Gedanken, daß die Pirogue in der vergangenen Nacht, bei nur etwas geringerer Aufmerksamkeit, in die Katarakten hinabgerissen worden wäre, welche offenbar nur ihre Leichen weitergeschwemmt hätten. Das war jetzt nicht mehr zu fürchten; hier genügte ein kräftiger Druck mit dem Bootsriemen, dieselbe in ein wenig schräger Richtung zur Strömung zu halten.
Eine Viertelstunde später hatte Dick Sand das jenseitige Ufer erreicht und wollte eben auf dessen Abhang springen…
Da erschallte ein wüstes Geschrei und etwa ein Dutzend Eingeborne stürzten sich auf den Zweig-und Blätterhaufen, der das Boot noch immer verdeckte.
Es waren das Kannibalen aus dem früher erwähnten Wasser-Dorfe. Schon acht Tage lang gingen sie dem rechten Flußufer nach. Unter dem an den Pfählen ihrer Ansiedelung etwas zerstörten Laubdache hatten sie Flüchtlinge gewittert, d.h. eine sichere Beute, da das Stromhinderniß der Wasserfälle die Unglücklichen früher oder später zwingen mußte, an’s Land zu gehen.
Dick Sand sah seinen Untergang vor Augen, aber er fragte sich, ob er nicht durch Aufopferung des eigenen Lebens seine Gefährten noch zu retten im Stande sei. In voller Selbstbeherrschung stand er im Vordertheile des Fahrzeugs und hielt mit dem Gewehr an der Schulter die Kannibalen in Respect.
Inzwischen hatten diese jedoch das ganze Bootsdach abgerissen, da sie weitere Opfer darunter vermutheten. Als sie sahen, daß der junge Leichtmatrose allein in ihre Hände gefallen sei, machte sich ihre Enttäuschung nur in noch drohenderem Geschrei Luft. Ein Knabe von fünfzehn Jahren für Zehn!
Da erhob sich aber einer der Eingebornen, streckte den Arm nach dem linken Ufer aus und wies auf Mrs. Weldon und deren Begleiter, die Alles gesehen hatten, und unschlüssig, was sie beginnen sollten, eben das Ufer hinaufstiegen.
Dick Sand dachte nicht im Mindesten an sich, sondern ersehnte vom Himmel eine Eingebung, welche nur die Anderen retten könnte.
Das Boot wurde abgestoßen. Die Kannibalen gedachten, den Strom zu überschreiten. Gegenüber der auf sie gerichteten Flinte sprachen sie kein Wort mehr. Sie kannten die Wirkung der Feuerwaffen recht gut. Einer derselben aber hatte den Bootsriemen ergriffen und handhabte diesen offenbar mit Geschick so daß die Pirogue wieder schräg über den Fluß glitt Bald befand sie sich nur noch fünfzig Schritt vom linken Ufer entfernt.
»Flieht Alle, rief Dick Sand Mrs. Weldon zu, flieht!«
Dingo spürte ihn auf und faßte ihn an der Gurgel. (S. 444.)
Weder Mrs. Weldon noch Herkules waren eines Wortes fähig. Es schien, als seien ihre Füße am Boden festgewurzelt.
Entfliehen? Wozu? Vor Ablauf einer Stunde wären sie doch den Kannibalen in die Hände gekommen.
Und der Bootsriemen sprang, von einer Kugel getroffen, in Stücke. (S. 450.)
Dick Sand verstand sie. Da kam aber die himmlische Eingebung, um welche er im Innern so flehentlich bat, plötzlich über ihn. Er sah den Weg, auf dem er durch Darbringung seines eigenen Lebens Alle retten könnte, die seinem Herzen theuer waren. Er zögerte nicht, ihn zu wählen.