»Gott schütze sie, murmelte er, und mir sei er in seiner Allgüte gnädig!«
In demselben Augenblick richtete Dick Sand sein Gewehr auf denjenigen der Eingebornen, der den Bootsriemen führte, und sofort sprang letzterer, von seiner Kugel glücklich getroffen, in Stücke.
Die Kannibalen stießen einen Schrei des Entsetzens aus.
Die von dem Riemen nicht mehr gehaltene Pirogue verfiel nun dem Zuge des Wassers. Mit zunehmender Schnelligkeit riß sie die Strömung mit sich fort, und in wenigen Augenblicken tanzte sie nur noch fünfzig Schritte vor den Fällen.
Mrs. Weldon und Herkules verstanden, was hier vorging. Dick Sand suchte sie zu retten, indem er die Kannibalen und sich selbst in den Abgrund stürzte. Am Uferabgange knieend, sandten ihm der kleine Jack und seine Mutter das letzte Lebewohl zu. Auch Herkules streckte die jetzt ohnmächtige Hand gegen ihn aus!…
Die Eingebornen machten einen letzten Rettungsversuch und sprangen, um schwimmend das linke Ufer zu erreichen, aus dem Boote, das in Folge dessen kenterte und vollkommen umschlug.
Auch angesichts des drohenden Todes hatte Dick Sand seine bewährte Kaltblütigkeit nicht eingebüßt. So kam ihm denn der Gedanke, daß vielleicht diese Barke, gerade weil sie mit dem Kiel nach oben dahinschwamm, seine Rettung werden könne.
In der That drohten mit dem Moment, da Dick Sand in den schäumenden Abgrund hinabgerissen wurde, gleichzeitig zwei Gefahren: die Erstickung durch das Wasser und die Erstickung durch die Luft. Dieser umgekehrte Bootsrumpf aber glich einem Kasten, etwa einer Taucherglocke, unter welcher er den Kopf über das Wasser heraushalten konnte, während er gleichzeitig vor der Wirkung der äußeren Luft, die ihn beim Hinabreißen unfehlbar erstickt hätte, sicher geschützt blieb. Solche Umstände scheinen es zu ermöglichen, daß ein Mensch dem doppelten Erstickungstode müsse entgehen können, selbst wenn er die Niagara-Fälle hinabglitte.
Dick Sand ward das Alles fast blitzschnell klar. Wie von glücklichem Instinct getrieben, klammerte er sich an eine, die beiden Bordseiten verbindende Bank und fühlte, den Kopf unter dem Schiffskörper immer über Wasser, wie der unwiderstehliche Strom ihn sausend dahinriß, und wie er in fast lothrechtem Falle in die brodelnde Tiefe stürzte.
Die Pirogue versank in die am Fuße des Kataraktes von den Wassermassen eingedrückte Höhlung, tauchte tief hinab, doch auch bald wieder zur Oberfläche des Stromes empor. Dick Sand, ein guter Schwimmer, begriff, daß Rettung jetzt nur von der Kraft seiner Arme zu hoffen sei…
Eine Viertelstunde später erreichte er das linke Ufer des Flusses und fand da auch Mrs. Weldon, den kleinen Jack und Vetter Benedict, welche Herkules in aller Eile hierher geführt hatte.
Die Kannibalen waren schon in dem Wogenaufruhr verschwunden. Sie fanden, da das gekenterte Boot ihnen keinen Schutz verlieh, den Tod schon, bevor sie ganz in die Tiefe des Abgrundes hinabgekommen waren, und ihre Leichen wurden von den spitzen Felsmassen zerrissen, an welchen sich die Strömung weiter flußabwärts brach.
Zwanzigstes Capitel.
Schluß.
Zwei Tage später, am 20. Juli, begegneten Mrs. Weldon und ihre Gefährten einer nach Emboma, an der Mündung des Congo, ziehenden Karawane. Es waren dies keine Sklavenhändler, sondern ehrbare portugiesische Kaufleute, welche Handel mit Elfenbein betrieben. Die Flüchtlinge fanden die freundlichste Aufnahme und der letzte Theil ihrer Reise ging denn unter ganz leidlichen Umständen von Statten.
Die Auffindung dieser Karawane war in der That eine Gnade des Himmels zu nennen. Dick Sand hätte mit einem Floße nicht weiter auf dem Zaïre hinabfahren können. Von den Fällen bei Ntemo ab bis nach Yellala bildete der Fluß nur noch eine Kette von Stromschnellen und Katarakten. Stanley zählte deren nicht weniger als zweiundsechzig, und es liegt auf der Hand, daß sich ein Boot überhaupt nicht dazwischen hineinwagen darf. Hier bestand der unerschrockene Reisende vier Jahre später das letzte der einunddreißig Gefechte, die er mit den Eingebornen auskämpfen mußte, und entkam nur wie durch ein Wunder den Gefahren der Katarakte von Mbelo.
Am 11. August kamen Mrs. Weldon, Dick Sand, Jack, Herkules und Vetter Benedict im Emboma an, wo die Herren Motta Viega und Harrison sie mit edelherziger Gastfreundschaft aufnahmen. Zufällig ging bald ein Dampfer nach der Landenge von Panama ab. Mrs. Weldon und ihre Begleiter schifften sich auf demselben ein und erreichten glücklich den Boden Amerikas.
Eine nach San Francisco abgelassene Depesche unterrichtete James W. Weldon von der unverhofften Rückkehr seiner Gattin und seines Kindes, nach deren Spuren er schon vergeblich an allen Stellen geforscht hatte, wo er nur annehmen konnte, daß der »Pilgrim« gescheitert sein könne.
Am 25. August brachte die Eisenbahn endlich die Schiffbrüchigen wieder nach der Hauptstadt Californiens zurück. O, wenn der alte Tom und seine Gefährten auch hätten dabei sein können!…
Was bleibt uns nun übrig, von Dick Sand und von Herkules zu berichten? Der Eine wurde der Sohn, der Andere der Freund des Hauses. James Weldon wußte Alles, was er dem jungen Leichtmatrosen, Alles, was er dem wackeren Neger zu verdanken hatte. Er fühlte sich auch glücklich, daß Negoro nicht bis zu ihm gelangt war, er hätte ja, soweit seine Mittel reichten, Alles für die Erlösung seiner Frau und seines Kindes hingegeben! Er wäre auch nach dem Gestade Afrikas gereist und dort wer weiß welchen Gefahren, welchen Schurkereien ausgesetzt gewesen.
Von Vetter Benedict nur ein Wort. Am Tage der Rückkehr noch schloß sich der wackere Gelehrte, nach einem mit James Weldon gewechselten Händedrucke, in sein Studirzimmer ein und ging an die Arbeit, als hätte er am Tage vorher einen Satz unvollendet gelassen. Er brütete über einem gewaltigen Werke von dem »Hexapodus Benedictus«, als ob die entomologische Wissenschaft schon dessen Erscheinen erwartete.
Hier, in seinem mit Insecten durchaus tapezierten Cabinet fand Vetter Benedict zum ersten Male eine Loupe und eine passende Brille wieder… Gütiger Himmel! Welcher Ausruf der Enttäuschung entfuhr ihm, als er jene Hilfswerkzeuge benützte, um das einzige Wunderexemplar, das ihm die afrikanische Insectenwelt geliefert hatte, nun eingehender zu studiren!
Der Hexapodus Benedictus war keine Hexapode! Es war eine ganz gemeine Spinne! Wenn sie nur sechs Füße, statt deren acht, besaß, so kam das einfach daher, daß ihr zwei Füße schon vorher fehlten. Und daß sie ihr fehlten, erklärt sich dadurch, daß Herkules ihr dieselben beim Anfassen – ausgebrochen hatte! Diese Verstümmlung reducirte den Hexapodus Benedictus zum Invaliden und versetzte ihn unter die Klasse der gewöhnlichsten Arachniden – welche Erkenntniß Vetter Benedict’s grausame Kurzsichtigkeit bis heute verhindert hatte. Den Gelehrten warf diese bittere Enttäuschung auf das Krankenlager, von dem er sich jedoch zum Glück noch wieder erholte.
Drei Jahre später, als der kleine Jack acht Jahre zählte, wiederholte Dick Sand mit ihm dessen Lectionen als gestrenger, aber eifriger Lehrer. Kaum hatte er nämlich den Fuß an’s Land gesetzt und empfunden, was ihm noch Alles fehlte, als er sich fast mit Gewissensbissen seinen Studien ergab, d.h. mit den Gewissensbissen eines Mannes, der aus Mangel an Kenntnissen sich seiner Aufgabe nicht gewachsen gefühlt hatte.
»Ja gewiß, wiederholte er häufig, hätt’ ich an Bord des »Pilgrim« alles das gewußt, was ein Seemann kennen muß, wie viel Unglück wär’ uns erspart geblieben!«
So sprach Dick Sand. Achtzehn Jahre alt, hatte er seine hydrographischen Studien mit Auszeichnung vollendet und übernahm, durch besondere Gunst schon mit einem Patente belehnt, ein Schiffscommando für die Firma James W. Weldon.
Dahin hatte es durch seine gute Führung und durch eifrige Arbeit der an der Spitze von Sandy-Hook aufgefundene kleine Waisenknabe gebracht. Er erzwang sich, trotz seiner Jugend, die Achtung, ja den Respect Aller, die ihn kennen lernten, obwohl er sich bei seiner angebornen Bescheidenheit dessen so gut wie gar nicht bewußt wurde. Er fühlte es kaum, daß man ihn auszeichnete, weil seine Sicherheit im Handeln, sein Muth und seine in so vielen Prüfungen bewährte Ausdauer ihn zum Helden gestempelt hatte.