Als die Brigg-Goëlette nach der Unglücksstelle kam, fiel Mrs. Weldon in die Kniee und erhob die Hände gen Himmel.
»Laßt uns beten!« sagte die gottesfürchtige Frau.
Sie zog den kleinen Jack zu sich, der weinend neben seiner Mutter niederkniete. Das arme Kind begriff Alles. Dick Sand, Nan, Tom und die anderen Neger standen nun gesenkten Hauptes rings um die Dame. Alle sprachen das Gebet der Mrs. Weldon nach, in dem sie Gottes Allgüte Diejenigen empfahl, welche jetzt vor sein Antlitz treten sollten.
Dann wendete sich Mrs. Weldon an ihre Umgebung.
»Und nun, meine Freunde, sagte sie, flehen wir den Himmel an um Muth und Kraft für uns selbst.«
Gewiß konnten sie nicht innig genug Den um seinen Beistand anflehen, der ja Alles vermag – ihre Lage war wohl ernst und schwer genug dazu.
Das Schiff, welches sie trug, entbehrte ja nun des Kapitäns, der es leitete, und der Mannschaft, die es bediente. Es befand sich nahezu in der Mitte des ungeheuren Pacifischen Oceans, Hunderte von Meilen von jedem Lande entfernt, ein Spielball der Wogen und Winde.
Welch’ unseliges Verhängniß hatte doch diesen Walfisch dem »Pilgrim« in den Weg geführt? Welch’ Verhängniß den sonst so vorsichtigen, nun so unglücklichen Kapitän Hull verführt, seine Ladung vervollständigen zu wollen? Welche sonst in den Annalen der Großfischerei so seltene Katastrophe war hier hereingebrochen, bei der es nicht einmal möglich wurde, auch nur einen einzigen Matrosen aus der Jolle zu retten!
Ja, hier waltete ein furchtbares Verhängniß!
An Bord des »Pilgrim« befand sich nun kein Seemann mehr!
Doch – ein einziger, Dick Sand, aber er war nur Leichtmatrose, ein junger Mann von fünfzehn Jahren!
Kapitän, Steuermann, Matrosen, man kann kurz sagen, die ganze Besatzung des Schiffes vereinigte sich in seiner Person.
An Bord befand sich eine reisende Dame, eine Mutter nebst ihrem Sohne, deren Anwesenheit die jetzige Situation nur noch schwieriger erscheinen ließ.
Daneben waren wohl einige Neger, recht tüchtige und gute Menschen vorhanden, die auch die beste Absicht beseelte, zu thun, was ihnen befohlen würde, aber leider verstanden diese vom Seewesen so gut wie gar nichts.
Dick Sand stand mit gekreuzten Armen bewegungslos da und starrte nach der Stelle, an der Kapitän Hull untergegangen war, womit er selbst ja seinen zärtlich geliebten väterlichen Freund und Beschützer verlor. Dann irrten seine Augen über den weiten Horizont, um ein Schiff zu suchen, das er hätte um Hilfe angehen oder dem er wenigstens Mrs. Weldon nebst ihrem Sohne hätte übergeben können.
Er selbst wollte den »Pilgrim« natürlich auf keinen Fall verlassen, ohne dessen Heimführung nach einem amerikanischen Hafen versucht zu haben. Aber Mrs. Weldon und ihr Kind wären doch in Sicherheit gewesen, und er hätte für diese beiden Wesen, denen er mit Leib und Seele ergeben war, nicht mehr zu sorgen, nichts mehr für sie zu fürchten gehabt.
Der Ocean war verlassen. Seit dem Verschwinden des Jubarts unterbrach kein einziger Punkt mehr die glatte Wasserfläche. Rings um den »Pilgrim« nichts als Himmel und Wasser. Der junge Leichtmatrose wußte es nur zu gut, daß er sich außerhalb der von den Kauffahrern eingehaltenen Route befand, und daß die anderen Walfischfänger jetzt noch sehr weit von ihm in den Fischgründen verweilten.
Jetzt blieb indeß nichts übrig, als der thatsächlichen Lage muthig in’s Gesicht zu sehen und die Dinge zu nehmen, wie sie eben standen. Dick Sand that das und bat Gott inbrünstig um seinen gnädigen Beistand.
Was war nun wohl zu thun?
In diesem Augenblicke erschien Negoro wieder auf dem Verdeck, das er seit der Katastrophe verlassen hatte. Niemand hätte zu sagen vermocht, was dieses räthselhafte Wesen gegenüber jenem unerwarteten Unglücksfalle empfand. Er hatte der entsetzlichen Scene zugesehen, ohne sein gewohntes Schweigen zu brechen. Gierig war sein Auge jeder Einzelheit derselben gefolgt. Hätte aber Jemand dabei Zeit gehabt, ihn zu beobachten, er würde erstaunt gewesen sein, zu bemerken, daß sich auch nicht ein Muskel seines fast versteinerten Gesichtes dabei rührte. Ebenso schien er es gar nicht gehört zu haben, als die fromme Mrs. Weldon die Uebriggebliebenen aufforderte, für das Seelenheil der Verunglückten zu beten.
Negoro begab sich nach dem Hinterdeck, wo Dick Sand bewegungslos dastand. Er blieb drei Schritt vor ihm stehen.
»Haben Sie etwas mit mir zu sprechen? fragte Dick Sand.
– Ich habe nur mit Kapitän Hull zu reden, antwortete Negoro, und im Falle dieser nicht da wäre, mit dem Hochbootsmann Howick.
– Sie werden recht gut wissen, daß Beide umgekommen sind, erwiderte der Leichtmatrose unwillig.
– Wer commandirt also jetzt an Bord? fragte Negoro sehr unverschämt?
– Ich! antwortete Dick Sand ohne Zögern.
– Sie! murmelte Negoro achselzuckend. Ein Kapitän von fünfzehn Jahren!
– Ein Kapitän von fünfzehn Jahren, gewiß!« wiederholte Dick Sand und ging auf den Küchenmeister zu.
Dieser wich zurück.
»Vergessen Sie das niemals! fiel da Mrs. Weldon ein. Es ist nur ein Kapitän hier… der Kapitän Sand, und Jeder wird gut thun, zu wissen, daß er diesem zu gehorchen hat!«
Negoro verneigte sich und ging, noch einige unverständliche Worte murmelnd, nach seinem Posten zurück.
Dick Sand’s Entschluß war also gefaßt.
Inzwischen hatte die Brigg-Goëlette unter auffrischender Brise die Crustaceenmasse schon hinter sich gelassen.
Dick Sand prüfte die Segelstellung. Dann glitten seine Augen über das Verdeck hinweg. Es kam ihm jetzt das Gefühl, als müsse er, gegenüber der ungeheuren Verantwortlichkeit, die in Zukunft auf ihm lastete, nothwendiger Weise auch die Kraft in sich finden, diese zu tragen. Er wagte es sogar, alle die Ueberlebenden des »Pilgrim« anzusehen, deren Augen jetzt an ihm hingen. Und da er aus ihren Blicken erkannte, daß er auf sie zählen könne, so sagte er ihnen auch mit wenigen Worten, daß sie auf ihn rechnen dürften.
Dick Sand hatte sich selbst ganz aufrichtig geprüft.
Fühlte er sich auch im Stande, mit Hilfe Tom’s und seiner Genossen die Segel je nach den Umständen richtig zu stellen und zu handhaben, so besaß er offenbar doch nicht alle nothwendigen Kenntnisse, um den jeweiligen Ort des Schiffes durch Rechnung zu bestimmen.
Nach vier oder fünf weiteren Jahren hätte Dick Sand gewiß alles Nöthige gründlich gekannt. Er hätte sich des Sextanten zu bedienen gewußt, den Kapitän Hull täglich gebrauchte, um die Höhe der Gestirne zu messen. Er hätte am Chronometer die Zeit des Meridians von Greenwich abgelesen, und daraus mittels des Stundenwinkels die geographische Länge feststellen können. Der Mond, die Planeten hätten ihm gesagt: Da, auf diesem Punkte des Oceans befindet sich Dein Schiff! Das Firmament, auf dem die Gestirne sich bewegen wie die Zeiger einer vollkommenen Uhr, welche kein Stoß in Unordnung bringen kann und deren Sicherheit eine absolute ist, dieses Firmament würde ihm die Zeit und die Entfernung gelehrt haben! Durch astronomische Beobachtungen hätte er, wie das sein Kapitän täglich vornahm, den Ort, auf dem der »Pilgrim« segelte, bis auf eine (See-) Meile genau feststellen und damit ebenso den schon zurückgelegten wie auch den einzuschlagenden Weg bestimmen können.
Jetzt freilich erfuhr er seinen Weg eigentlich nur durch Schätzung, d.h. aus der durch das Log gemessenen und am Compaß beobachteten Route, bei der noch die Abtrift durch die Strömung in Rechnung zu ziehen war.