Und dennoch zögerte er nicht.
Mrs. Weldon begriff, was in dem muthigen Herzen des jungen Leichtmatrosen vorging.
»Ich danke, Dick, sagte sie mit fester Stimme. Kapitän Hull ist nicht mehr! Seine ganze Mannschaft ist mit ihm zu Grunde gegangen! Das Schicksal des Schiffes ruht jetzt in Deinen Händen! Dick, Du wirst das Fahrzeug retten nebst Allen, die es trägt.
– Ja, Mistreß Weldon, antwortete Dick Sand, ja, mit Gottes Hilfe will ich es versuchen.
– Tom und seine Begleiter sind wackere Leute, auf welche Du unbedingt bauen kannst.
– Ich weiß es, ich denke noch Seeleute aus ihnen zu machen, so daß wir zusammen arbeiten können. Bei gutem Wetter dürfte das nicht allzu schwer sein. Bei schlechtem Wetter… nun bei schlechtem Wetter werden wir eben kämpfen und Sie dennoch retten, Mistreß Weldon, Sie und Ihren kleinen Jack, Alle! Ja, ich fühle, daß es gelingen wird…«
Dann setzte er noch einmal hinzu:
»Mit Gottes Hilfe!
– Und nun, Dick, kannst Du wissen, in welcher Position der »Pilgrim« sich befindet? fragte die Dame.
– Ganz leicht, antwortete der Leichtmatrose, ich brauche ja nur die Karte einzusehen, auf welcher Kapitän Hull noch bis gestern die Lage des Schiffes eingezeichnet hat.
– Und wirst Du die Brigg in eine günstige Richtung bringen können?
– Ja, ich denke sie genau nach Osten, fast direct auf den Punkt zu richten, den wir in Amerika anlaufen sollen.
– Du siehst indeß wohl ein, Dick, fuhr Mrs. Weldon fort, daß dieser Unfall die früheren Absichten verändern konnte und sogar mußte. Nun handelt es sich nicht mehr darum, Valparaiso anzulaufen. Unser Bestimmungsort ist jetzt der nächstgelegene Hafen Amerikas.
– Gewiß, Mistreß Weldon, bestätigte der Leichtmatrose. Seien Sie unbesorgt. Die amerikanische Küste, welche sich so tief nach Süden hinabzieht, können wir nicht verfehlen.
– Wo liegt dieselbe? fragte Mrs. Weldon.
– Dort, in dieser Richtung, belehrte sie Dick Sand, mit dem Finger nach Osten weisend, wozu er den Compaß in Anspruch nahm.
– Schön, Dick; mögen wir nun in Valparaiso oder in einem anderen Hafen an’s Land kommen, das thut nichts; die Hauptsache ist, überhaupt an’s Land zu kommen.
– Das werden wir, Mistreß Weldon, erklärte der Leichtmatrose zuversichtlich, ich werde Sie sicher ausschiffen. Wenn wir uns dem Lande nähern, hoffe ich auch einem der dort zahlreichen Küstenfahrer zu begegnen. O, Mistreß Weldon, der Wind scheint nach Nordwest umzuschlagen – gebe Gott, daß er so bleibt, dann werden wir schnell vorwärts kommen. Dann spannen wir alle Leinwand aus und fangen ihn vom Deck bis zur Dick Sand sprach mit der Zuversicht eines Seemannes, der ein gutes Schiff unter seinen Füßen fühlt und es in jeder Lage zu beherrschen weiß. Er ergriff das Steuerruder und rief die Leute zusammen, um die Segel passend zu richten, als ihn Mrs. Weldon erinnerte, daß er vor Allem die Lage des »Pilgrim« feststellen möge.
In der That erschien das am nöthigsten. Dick Sand begab sich in das Zimmer des Kapitäns, um die Karte zu holen, auf welcher der gestrige Stand des Schiffes eingezeichnet war. Er konnte damit Mrs. Weldon zeigen, daß die Brigg-Goëlette sich unter 43°45’ der Breite und 164°13’ der Länge befand, denn seit gestern hatte sie so gut wie gar keine Fahrt gemacht.
Mrs. Weldon hatte sich über die Karte gebeugt. Sie betrachtete die bräunliche Schattirung, welche das Land an der rechten Seite des weiten Oceans darstellte. Das war die Küste Südamerikas, der ungeheure, zwischen den Atlantischen und den Pacifischen Ocean vorgeschobene Erdwall, vom Cap Horn an bis zu den Küsten Columbiens. Betrachtete man diese Karte, wie sie so hier ausgebreitet lag und auf der man einen ganzen Großen Ocean übersah, so glaubte man, daß es ein Leichtes sein müsse, die Passagiere des »Pilgrim« wieder heimzuführen. Es beruht auf einer Täuschung, der Jeder ohne Ausnahme verfällt, welcher sich den verjüngten Maßstab, in dem diese Seekarten ausgeführt sind, nicht vorzustellen gewöhnt ist. Und in der That schien es auch Mrs. Weldon, als müsse das Land fast in Sicht sein, wie es das auf diesem Stück Papier war.
Und doch wäre der »Pilgrim« mitten in diese weiße Fläche und in demselben Maßstabe gezeichnet, kleiner erschienen, als die kleinsten mikroskopischen Infusorien! Gleich einem mathematischen Punkte ohne meßbare Dimensionen hätte man den »Pilgrim« für verloren ansehen müssen, wie er es in der Wasserwüste des Stillen Oceans auch wirklich war.
Dick Sand hatte nicht dieselbe Empfindung wie Mrs. Weldon. Er kannte die ungeheure Entfernung jeden Landes, zu deren Messung Hunderte von Meilen nicht ausreichten. Doch sein Entschluß stand fest; die Verantwortlichkeit hatte ihn zum Manne gemacht!
Mrs. Weldon hatte sich über die Karte gebeugt. (S. 95.)
Die Zeit zu handeln war gekommen; die auffrischende Brise aus Nordwest mußte benutzt werden. Der ungünstige Wind hatte einem recht günstigen Platz gemacht und einige in Form der Cyrrhi über den Himmel verstreute Wolken deuteten auf eine gewisse Ausdauer desselben hin.
Alle Drei fielen rückwärts nieder. (S. 102)
Dick Sand rief Tom und seine Begleiter herbei.
»Meine Freunde, begann er, unser Schiff hat keine andere Besatzung mehr als Euch. Ohne Eure Hilfe vermag ich es nicht zu führen. Ihr seid zwar keine Seeleute, habt aber tüchtige Arme. Leiht sie dem Dienste des »Pilgrim« und wir werden mit ihm segeln können. Unser Aller Heil hängt davon ab, daß Alles an Bord gut von statten gehe.
– Herr Dick, antwortete Tom, meine Begleiter und ich, wir sind Ihre Matrosen. An gutem Willen soll es uns nicht fehlen. Alles was Menschen ausführen können, wird geschehen, wie Sie befehlen.
– Gut gesprochen, alter Tom, sagte Mrs. Weldon.
– Gewiß, fuhr Dick Sand fort, doch hier gilt es klug zu sein, und ich werde nicht überflüssiger Weise Segel beisetzen, um weniger Gefahr zu laufen. Etwas weniger Schnelligkeit, dafür aber etwas mehr Sicherheit, das ist’s, was die Umstände uns gebieten. Ich werde Euch sagen, meine Freunde, was Jeder bei der Handhabung der Segel zu thun hat. Ich selbst denke am Steuer so lange zu bleiben, als mich die Erschöpfung nicht zwingt, dasselbe zu verlassen. Wenige Stunden Schlaf werden hinreichen, mich immer wieder zu kräftigen. Doch während dieser wenigen Stunden muß schon Einer von Euch an meine Stelle treten. Euch, Tom, werd’ ich es zuerst lehren, wie man nach der Angabe des Compasses steuert. Das ist ja nicht zu schwer und bei einiger Aufmerksamkeit werdet Ihr bald dahin gelangen, das Schiff in der gewünschten Richtung zu erhalten.
– Sobald Sie wollen, Herr Dick, antwortete der alte Neger.
– Nun gut, fuhr der Leichtmatrose fort, so bleibt den Tag über bei mir am Steuer, und sollte mich die Müdigkeit übermannen, so könnt Ihr mich schon für einige Stunden ersetzen.
– Und ich, fiel der kleine Jack ein, soll ich meinem Freunde Dick gar nicht ein wenig helfen können?
– O ja, liebes Kind, antwortete Mrs. Weldon, indem sie Jack in die Arme preßte, man wird auch Dich steuern lehren, und ich bin überzeugt, daß wir guten Wind haben, wenn Du am Helmstock stehst!
– Gewiß, gewiß, Mama! Das versprech’ ich Dir! rief der kleine Knabe händeklatschend.
– Ja, bemerkte der junge Leichtmatrose lächelnd, gute Schiffsjungen wissen den Wind zu erhalten! Das hört man von allen erfahrenen Seeleuten!«.
Dann wandte er sich an Tom und die anderen Neger.
»Meine Freunde, sagte er, wir wollen nun alle Segel beisetzen und in den Wind stellen. Ihr habt nur zu thun, was ich Euch sage.
– Zu Ihrem Befehl, antwortete Tom, ganz zu Ihrem Befehl Kapitän Sand!«