Dieser Ausgang konnte nur die Frage von wenigen Stunden sein. Jetzt war es acht Uhr Morgens. Noch am Vormittag mußte der »Pilgrim« sicherlich am Lande ankommen.
Auf ein Zeichen Dick Sand’s führte Herkules die Mrs. Weldon wieder nach dem Hinterdeck zurück, denn diese hätte bei dem Rollen und Stampfen des Schiffes hier kaum länger aushalten können.
Noch einen Augenblick lang blieb der Leichtmatrose auf dem Verdeck, dann begab er sich nach dem Steuer zu dem alten Tom.
Endlich sah er ja nun die so spät erkannte, so inständig ersehnte Küste vor sich, doch nicht ohne eine gewisse Empfindung von Angst und Schaudern.
Unter den Verhältnissen, in welchen sich der »Pilgrim« befand, indem er vor einem Sturme floh, war Land unter dem Winde fast gleichbedeutend mit einem Schiffbruche und allen seinen Schrecken.
Zwei Stunden gingen hin. Jetzt zeigte sich das Vorgebirge seitwärts des Schiffes.
Da erschien Negoro auf dem Deck. Er betrachtete die Küste mit gespannter Aufmerksamkeit, bewegte den Kopf so wie Jemand, der ganz genau weiß, woran er ist, und verschwand dann wieder, nachdem er ein einziges Wort gemurmelt hatte, das indeß Niemand verstehen konnte.
Dick Sand bemühte sich, das Gestade zu erkennen, welches sich seiner Annahme nach hinter dem Vorberge doch zeigen mußte.
Wiederum enteilten zwei Stunden. Der Berg stand jetzt schon backbordwärts hinter ihnen, aber von einer weiteren Küste war noch nichts zu sehen.
Da der Himmel sich am Horizonte klärte, hätte eine hohe Küste, wie diejenige Amerikas, neben welcher die gewaltigen Anden hinliefen, auf mehr als zwanzig Meilen sichtbar sein müssen.
Dick Sand ergriff sein Fernrohr und suchte längs des ganzen östlichen Horizontes.
Nichts! Er sah nichts mehr!
Um zwei Uhr Nachmittags war jede Spur von Land hinter dem »Pilgrim« verschwunden. Nach vorwärts ließ auch das Fernrohr nirgends nur eine Linie einer hohen oder niedrigen Küste wahrnehmen.
Ein unwillkürlicher Schrei entrang sich Dick Sand’s Lippen und schnell verließ er das Verdeck, um sich in die Cabine zu begeben, die Mrs. Weldon mit dem kleinen Jack, Nan und Vetter Benedict inne hatte.
»Eine Insel war es! sagte er, nichts als eine Insel!
– Eine Insel, Dick? Aber welche? fragte Mrs. Weldon.
– Das wird uns die Karte lehren!« erwiderte der Leichtmatrose.
Er entfernte sich einen Augenblick und brachte die Seekarte herbei.
»Hier, Mistreß Weldon, sagte er, hier. Das Land, welches wir in Sicht hatten, kann nur dieser mitten im Pacifischen Ocean verlorene Punkt, nur die Osterinsel, gewesen sein! Es giebt keine andere in dieser Gegend.
– Und diese haben wir schon hinter uns gelassen? fragte Mrs. Weldon.
– Ja, sie liegt schon weit von uns im Winde!«
Aufmerksam betrachtete Mrs. Weldon die Osterinsel, welche auf der Karte einen kaum bemerkbaren Punkt bildete.
»In welcher Entfernung von der amerikanischen Küste liegt sie wohl?
– Fünfunddreißig Grade.
– Das macht?
– Ungefähr zweitausend Meilen.
– So hat der »Pilgrim« also gar keine Fahrt gemacht, da wir uns noch so weit vom Festlande befinden?
– Mistreß Weldon, antwortete Dick Sand, der einen Augenblick mit der Hand über die Stirne fuhr, als wolle er seine Gedanken sammeln, ich weiß nicht… ich vermag diese unglaubliche Verzögerung nicht zu erklären… Nein! Ich kann nicht…. vorausgesetzt, daß die Boussole richtig gezeigt hat!… Und doch, jene Insel kann keine andere als die Osterinsel sein, da wir gezwungen waren, vor dem Sturm nach Nordosten zu fliehen, und wir müssen dem Himmel noch danken, daß er uns Gelegenheit geboten hat, wenigstens unsere jetzige Position zu bestimmen. Gewiß, das war die Osterinsel und sie liegt noch zweitausend Meilen von der Küste! Endlich weiß ich, wohin uns der Sturm verschlagen hat, und wenn er sich legt, werden wir doch mit einiger Aussicht auf Rettung das Gestade Amerikas anlaufen können. Nun ist unser Schiff wenigstens nicht ferner in der Unendlichkeit des Pacifischen Oceans verloren!«
Alle, welche ihn so reden hörten, theilten die frohe Zuversicht des jungen Leichtmatrosen. Sogar Mrs. Weldon ließ sich durch jene Worte gewinnen. Es schien in der That, als wären die armen Leute jetzt nahe am. Ende ihrer Noth und als segle der »Pilgrim« mit günstigem Winde auf seinen Hafen zu und habe nur die Fluth abzuwarten, um in denselben einzulaufen.
Die Osterinsel – eigentlich Waihu oder Rapanuhi genannt – wurde im Jahre 1686 von David entdeckt, von Cook und Laperouse besucht und liegt unter 27° südlicher Breite und 112° östlicher Länge. War die Brigg-Goëlette um fünfzehn Grade nach Norden verschlagen worden, so lag die Ursache offenbar in jenem Sturme aus Südwesten, vor dem sie sich flüchten mußte.
Der »Pilgrim« befand sich also noch zweitausend Meilen weit von der Küste. Jedenfalls konnte er bei dem mit voller Kraft wehenden Winde irgend einen Landungspunkt Südamerikas in weniger als zehn Tagen erreichen.
Durste man auch, wie der Leichtmatrose gesagt hatte, darauf hoffen, daß die Witterung nun günstig und daß es möglich werden würde, einige Segel beizusetzen, wenn man Land in Sicht bekäme?
»Ihr habt Land gesehen?« fragte der Leichtmatrose noch einmal. (S. 132.)
Dick Sand’s Hoffnung war das allerdings noch immer. Er sagte sich, daß dieser schon so viele Tage anhaltende Orkan doch endlich gleichsam aus »Erschöpfung« ein Ende finden müsse. Da er ferner jetzt, nachdem ihm die Osterinsel dazu verholfen hatte, seine Position festzustellen, seines Fahrzeuges gewissermaßen mehr Herr geworden, hatte man allen Grund zu der Annahme, daß er jenes auch nach einem bestimmten Punkte zu führen im Stande sein würde.
Die Kenntnißnahme von erwähntem vereinsamten Punkt inmitten des Meeres, die ihm wie eine Gunst der Vorsehung erschien, hatte Dick Sand all’ seine Zuversicht wiedergegeben. Hing er für jetzt auch noch von den Launen eines Sturmes ab, den er nicht zu beherrschen vermochte, so segelte er doch nicht mehr einem Blinden gleich dahin.
Ueberdies hatte der »Pilgrim« trotz dieses gewaltigen Unwetters, Dank seiner soliden Bauart und guten Ausrüstung, nur wenig gelitten. Seine Havarien beschränkten sich auf den Verlust des Marssegels und des kleinen Focksegels – ein Schaden, der ja leicht zu verbessern war.
Nicht ein Tropfen Wassers war durch die sorgsam kalfaterten Fugen der Schiffswand oder des Verdecks gedrungen. Die Pumpen befanden sich im besten Zustande. Nach dieser Seite war also so gut wie nichts zu fürchten.
Es blieb nur dieser scheinbar endlose Orkan übrig, dessen Wuth nichts zügeln zu können schien.
»Dick, mein liebes Kind, mein Kapitän!« sagte Mrs. Weldon. (S. l39.)
Konnte Dick Sand auch sein Schiff so führen, daß es einigermaßen gegen das empörte Meer anzukämpfen vermochte, so lag es doch nicht in seiner Gewalt, dem Winde zu befehlen, daß er sich mäßige, den Wellen, daß sie sich glätten, dem Himmel, daß er sich wieder erheitere. War er an Bord auch »der Herr nach Gott«, so war es doch Gott allein, der außerhalb des Schiffes den Sturm und die Wogen beherrschte.
Dreizehntes Capitel.
Land! Land!
Das Vertrauen, welches Dick Sand’s Herz fast instinctiv erfüllte, sollte wirklich zum Theil gerechtfertigt werden.
Am folgenden Tage, dem 27. März, stieg die Quecksilbersäule im Barometerrohre. Diese Bewegung vollzog sich weder sehr schnell, noch in weitem Umfange, sondern betrug nur wenige Linien, schien aber ununterbrochen weiter zu gehen. Unzweifelhaft neigte jetzt der Sturm seiner Abnahme zu, und blieb der Seegang auch noch immer ein sehr schwerer, so ließ der Wind, der mehr nach Westen umschlug, doch offenbar schon etwas nach.