Noch konnte Dick Sand freilich nicht daran denken, ein Segel zu entfalten. Auch das kleinste Stück Leinwand wäre zerrissen und weggeführt worden. Jedenfalls hoffte er aber, vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden im Stande zu sein, wenigstens ein Sturmsegel beisetzen zu können.
Während der Nacht ermäßigte sich der Wind im Vergleich zu den vorhergegangenen Tagen wirklich beträchtlich, und das Schiff ward auch nicht mehr so heftig von den Wasserbergen hin-und hergeworfen, die es früher aus den Fugen zu reißen drohten.
Die Passagiere fanden sich allmälig wieder auf dem Verdecke ein; sie liefen jetzt nicht mehr Gefahr, von einer Sturzsee über Bord gespült zu werden.
Mrs. Weldon war die Erste, welche ihre enge Wohnung verließ, in die sie Dick Sand während des lang dauernden Sturmes aus Vorsicht verbannt hatte. Sie begann ein Gespräch mit dem Leichtmatrosen, den eine fast übermenschliche Willenskraft in den Stand gesetzt hatte, so unglaublichen Anstrengungen nicht zu unterliegen. Abgemagert und blaß trotz seines sonnengebräunten Teints, hätte er bei dem Mangel des seinem Alter so nöthigen Schlafes doch furchtbar geschwächt sein müssen. Mit nichten! Seine gute Natur überwand Alles. Vielleicht bezahlte er später die überstandenen Strapazen um so theurer. Jetzt war noch keine Zeit, die Hände in den Schoß zu legen. Dick Sand hatte sich das Alles selbst gesagt und Mrs. Weldon fand ihn ebenso thatkräftig, wie je vorher wieder.
Dick Sand hatte ja Vertrauen und das Vertrauen wird durch keinen Befehl erschüttert, es befiehlt vielmehr selbst.
»Dick, mein liebes Kind, mein Kapitän! sagte Mrs. Weldon, indem sie dem jungen Leichtmatrosen die Hand bot.
– Ah, Mistreß Weldon, rief Dick Sand, Sie verletzen ja die Anordnungen Ihres Kapitäns! Sie erscheinen wieder auf dem Deck, trotz seiner… Bitten!
– Freilich, ich gehorche Dir nicht, erwiderte Mrs. Weldon, doch ich habe ein gewisses Vorgefühl, daß der Sturm sich legt, oder sich bald legen wird.
– Er legt sich in der That, Mistreß Weldon, bestätigte der Leichtmatrose. Sie täuschten sich nicht. Das Barometer ist seit gestern nicht gefallen. Der Wind fällt ab und ich komme zu dem Glauben, daß unsere harten Prüfungen nun vorüber sind.
– Möge der Himmel Deine Worte hören, Dick! Ach, wie viel hast Du ausgestanden, mein armes Kind! Du verrichtetest….
– Nichts als meine Pflicht, Mistreß Weldon.
– Doch wirst Du Dir nun endlich einige Ruhe gönnen?
– Ruhe! wiederholte der Leichtmatrose. Ich bedarf der Ruhe nicht; ich befinde mich, Gott sei Dank, vollkommen wohl und muß nun auch bis an’s Ende ausdauern. Sie haben mich Kapitän genannt und ich will auch wirklich Kapitän bleiben, bis alle Passagiere des »Pilgrim« in Sicherheit sind.
– Dick, fuhr Mrs. Weldon fort, mein Mann und ich werden Dir nimmermehr vergessen, was Du für uns thatest.
– Gott hat Alles gethan, antwortete Dick Sand, Alles!
– Ich wiederhole Dir, mein Kind, daß Du Dich mit Deiner moralischen und physischen Energie als ein ganzer Mann erwiesen hast, als ein Mann, der würdig ist, zu befehligen, und sobald Deine Studien vollendet sind, was ja nicht lange dauern kann, wirst Du – mein Mann wird mein Wort einlösen – für das Haus James W. Weldon ein Kommando führen.
– Ich… ich!… rief Dick Sand, dessen Augen sich mit Thränen füllten.
– Lieber Dick, antwortete Mrs. Weldon, Du warst von jeher unser Adoptivkind; jetzt bist Du unser Sohn, der Retter Deiner Mutter und Deines Bruders Jack! Mein lieber Dick, komm, ich umarme Dich auch im Namen meines Gatten!«
Die muthige Frau hatte ihre Rührung beherrschen wollen, als sie den jungen Leichtmatrosen in die Arme schloß, aber das Herz ging ihr über. Welche Feder aber wäre erst im Stande, Dick Sand’s Gefühle dabei wiederzugeben! Er fragte sich, ob er nicht noch mehr thun könne, als das Leben zu lassen für seine Wohlthäter, und er unterzog sich schon im Voraus willig allen den Prüfungen und Beschwerden, die ihm die Zukunft etwa bieten könnte.
Dick Sand fühlte sich nach diesem Gespräche neu gestärkt. Wurde nun der Wind etwas günstiger und konnte er auch nur wenig Segel entfalten, so zweifelte er nicht, sein Schiff nach einer Stelle führen zu können, wo Alle, die er bei sich hatte, endlich Rettung finden würden.
Da sich der Wind am 29. noch weiter ermäßigte, dachte Dick Sand daran, das Mars-und das Focksegel beizusetzen, um die Schnelligkeit des »Pilgrim« zu steigern und den Kurs besser einhalten zu können.
»Nun, vorwärts, Tom! Vorwärts, meine Freunde! rief er, als er am frühen Morgen auf Deck kam. Kommt, ich brauche Eure Arme!
– Wir sind bereit, Kapitän Sand, erklärte der alte Tom.
– Bereit zu Allem, setzte Herkules hinzu. Bei diesem Sturme war ja nichts zu thun und ich fing schon an einzurosten.
– Du hättest mit Deinem großen Munde blasen sollen, meinte der kleine Jack. Ich wette, Du wärest ebenso stark gewesen wie der Wind.
– Das wäre ein Gedanke, Jack, bemerkte Dick Sand lächelnd. Wenn einmal Windstille ist, dann lassen wir Herkules in die Segel blasen.
– Zu Ihrem Befehl, Herr Dick! antwortete der wackere Neger, indem er die Wangen wie ein leibhaftiger Windgott aufblies.
– Jetzt, meine Freunde, fuhr der Leichtmatrose fort, wollen wir an Stelle des durch den Sturm verlorenen Marssegels ein Reservesegel beisetzen. Das wird zwar nicht allzu leicht sein, doch es ist nothwendig.
– Und wird auch fertig werden! sagte Acteon.
– Kann ich Euch helfen? fragte der kleine Jack, der sich immer nützlich machen wollte.
– Gewiß, mein Jack, antwortete der Leichtmatrose. Du trittst mit an das Steuer und hilfst unserem Freunde Bat auf seinem Posten.«
Es ist wohl unnöthig zu sagen, wie stolz der kleine Jack sich über diese Ernennung zum Hilfs-Steuermann des »Pilgrim« fühlte.
»Nun, an’s Werk, fuhr Dick Sand fort, und Keiner begebe sich ohne Noth in Gefahr!«
Von dem Leichtmatrosen geführt, machten sich die Neger an die Arbeit. Ein Marssegel an seine Raae zu befestigen, bot für Tom und seine Gefährten freilich einige Schwierigkeiten. Es handelte sich darum, das zusammengerollte Segelleinen erst empor zu hissen und dann an der Raae zu verknüpfen.
Dick Sand ertheilte jedoch so zweckmäßige Befehle und diesen wurde auch so folgsam nachgekommen, daß die Leinwand nach Verlauf einer Stunde an ihrer Raae befestigt, diese gehißt und das Marssegel mit zwei Reesen eingestellt war.
Das große Fock-und das zweite Focksegel, welche vor dem Sturme eingebunden wurden, ließen sich trotz der Kraft des Windes weit leichter in Ordnung bringen.
An genanntem Tage um zehn Uhr Morgens segelte der »Pilgrim« zum ersten Male wieder mit dem Mars-dem Fock-und dem zweiten Focksegel.
Dick Sand hatte es nicht für gerathen erachtet, noch mehr Leinwand zu entfalten. Die Segel, welche er jetzt trug, mußten dem »Pilgrim«, wenn der Wind nicht nachließ, eine Schnelligkeit von zweihundert Meilen in vierundzwanzig Stunden sichern, und einer größeren bedurfte es ja nicht, um die Küste Amerikas binnen zehn Tagen zu erreichen.
Der Leichtmatrose empfand eine wirkliche Befriedigung, als er an das Steuer zurückkehrte und seinen Posten wieder einnahm, nachdem er Meister Jack, dem Hilfs-Steuermann des »Pilgrim«, seinen Dank ausgesprochen hatte. Jetzt war er den Wellen nicht mehr willenlos preisgegeben. Er machte gute Fahrt. Seine Freude wird Derjenige verstehen, welcher mit den Verhältnissen auf dem Meere einigermaßen vertraut ist.
Am folgenden Tage flogen die Wolken noch mit der nämlichen Schnelligkeit dahin, ließen aber doch weite Zwischenräume unter sich, durch welche die Strahlen der Sonne auf die Meeresfläche niederblitzten. Zuweilen erschien der »Pilgrim« wie übergossen mit Licht. Es ist ein schönes Ding um dieses blendende Licht! Manchmal versteckte es sich hinter einer enormen Dunstmasse, die nach Osten hin enteilte, dann erschien es wieder, um von Neuem zu verschwinden, doch Alles in Allem wendete sich die Witterung zum Besseren.