– Wahrhaftig, meinte Dick Sand, dann wäre es wohl gerathener gewesen, längs der Küste hinauf oder hinab zu ziehen.
– Gewiß, weit besser! bekräftigte Harris. Die Hacienda de San Felipe liegt jedoch diesseits der Cordilleren. Unsere Reise wird also weder im ersten, noch im letzten Theile besondere Schwierigkeiten finden.
– Und Sie befürchten auch nicht, sich in den Wäldern, die Sie zum ersten Male bereisen, zu verirren? fragte Dick Sand.
– O nein, mein junger Freund, versicherte Harris. Wohl weiß ich, daß dieser Wald einem unendlichen Meere gleicht oder besser einem Meeresgrunde, wo selbst ein Seemann keine Sternenhöhe messen und seine Lage nicht bestimmen könnte. Bei meiner Gewohnheit, durch die Wälder zu reisen, weiß ich den richtigen Weg schon aus der Anordnung gewisser Bäume, aus der Stellung ihrer Blätter, aus der Formation oder den Bestandtheilen des Erdbodens, kurz aus tausend Einzelheiten zu erkennen, die Ihnen alle entgehen.
Verlassen Sie sich darauf, ich führe Sie und Ihre Gefährten alle dahin, wohin Sie gelangen sollen!«
Harris sagte das Alles mit unleugbarer Zuversicht. An der Spitze des Zuges marschirend, sprachen er und Dick Sand häufig mit einander, ohne daß sich Jemand in ihre Unterhaltung mischte. Empfand der Leichtmatrose aber einmal eine Beunruhigung, welche der Amerikaner nicht zu zerstreuen vermochte, so zog er es vor, sie in sich zu verschließen.
Der 8., 9., 10., 11. und 12. April vergingen, ohne daß die Reise durch irgend einen Zwischenfall gestört wurde. Binnen zwölf Stunden legte man freilich niemals mehr als acht bis neun Meilen zurück. Regelmäßig ward Halt gemacht, um zu ruhen oder eine Mahlzeit einzunehmen, und wenn sich auch schon eine gewisse Ermüdung einstellte, so blieb doch der Gesundheitszustand Aller recht zufriedenstellend.
Der kleine Jack begann etwas zu leiden von diesem Waldleben, an das er nicht gewöhnt war, und das für ihn nach und nach gar zu einförmig wurde. Hierzu kam auch, daß man ihm nicht alle gegebenen Versprechungen hielt. Die Kautschuk-Gliedermännchen, die Kolibris – nichts von Allem wollte sich zeigen. Es war davon die Rede gewesen, ihm die herrlichsten Papageien der Welt zu weisen, welche in diesen üppigen Wäldern ja nicht fehlen konnten. Wo blieben doch die dieser Gegend eigenthümlichen Papageien mit grünem Gefieder, die Aras mit entblößten Wangen, langen zugespitzten Schwänzen und hellleuchtenden Farben, welche sich niemals auf die Erde setzen; jene mehr in Tropengegenden einheimischen Camindeen oder die farbenprächtigen Sittige mit befiedertem Gesicht, wo alle die geschwätzigen Vögel, welche nach den Sagen der Indianer noch die Sprachen der verschollenen Stämme sprechen?
Ihr röthliches Fell leuchtete wie ein Feuer. (S. 203.)
An Stelle der Papageien sah der kleine Jack nur aschgraue, rothgeschwänzte Jakos, welche in Massen unter den Bäumen umherschwärmten. Diese Jakos entbehrten für ihn aber des Reizes der Neuheit, da man dieselben in alle Theile der Welt übergeführt hat. Auf beiden Continenten schallt ihr unerträgliches Geschwätz durch die Häuser, und von der ganzen Familie, Psittacus« sind sie diejenigen, welche am leichtesten sprechen lernen.
Wir müssen hier auch die Bemerkung einflechten, daß, wenn der kleine Jack unzufrieden war, auch Vetter Benedict sich nicht mehr befriedigt fühlte.
Man hatte ihn unangefochten links oder rechts nebenherstreifen lassen, doch gelang es ihm niemals, ein Insect zu finden, das würdig gewesen wäre, seine Sammlungen zu bereichern. Selbst die Leuchtkäfer hüteten sich, des Abends zu erscheinen und ihn durch die Phosphorescenz ihres Brustschildes anzulocken. Die Natur schien den unglücklichen Entomologen ordentlich zum Narren zu haben, was ihm die Laune natürlicher Weise gründlich verdarb.
Noch vier Tage lang ging die Wanderung nach Nordosten unter denselben Verhältnissen weiter. Am 16. April durfte man nur annehmen, etwa hundert Meilen Weges zurückgelegt zu haben. Wenn Harris sich nicht verirrt hatte – und das verneinte er mit Sicherheit – so befand sich die Hacienda de San Felipe nur noch zwanzig Meilen entfernt von dem heutigen Halteplatze. Vor Ablauf von achtundvierzig Stunden mußte die kleine Gesellschaft also ein bequemes Unterkommen finden, wo sie endlich nach so langer Mühsal ausruhen konnte
Obschon man aber fast durch die ganze Mitte des Plateau gezogen war, begegnete man doch niemals einem Eingebornen oder einem Nomaden in dem endlosen Walde.
Ohne ein Wort darüber verlauten zu lassen, bedauerte Dick Sand doch wiederholt, nicht an einer anderen Stelle der Küste gescheitert zu sein. Weiter nach Süden oder nach Norden zu konnte an Flecken, Dörfern oder einzelnen Ansiedelungen kein Mangel sein, und schon seit langer Zeit hätte Mrs. Weldon nebst ihren Gefährten ein schützendes Obdach gefunden.
Erschien diese Gegend aber so menschenleer, so zeigten sich dafür in den letzten Tagen Thiere um so häufiger. Dann und wann vernahm man einen langen, kläglichen Schrei, der nach Harris von großen Faulthieren, »Ais« genannt, herrührte, den gewöhnlichen Gästen dieser ungeheueren Wälder.
Während der Mittagsrast erscholl an diesem Tage plötzlich ein Pfeifen von so eigenthümlicher Art, daß es Mrs. Weldon nicht wenig beunruhigte.
»Was war das? fragte sie, sich rasch erhebend.
– Eine Schlange!« rief Dick Sand, der mit dem Gewehre in der Hand vor Mrs. Weldon Stellung nahm.
Die Befürchtung lag ja ziemlich nahe, daß irgend ein Reptil unter dem hohen Grase bis zu dem Halteplatz herangeglitten war. Es hätte das recht wohl eine jener ungeheueren »Sucurus« sein können, d.h. eine Boa-Art, welche bis vierzig Fuß Länge erreichen.
Harris rief jedoch Dick Sand, zu dessen Unterstützung die Neger schon herbeieilten, zurück und suchte Mrs. Weldon zu beruhigen.
Seiner Aussage nach konnte jenes Pfeifen gar nicht von einer Sucuru herrühren, einfach deshalb, weil diese sich überhaupt nicht in dieser Weise hören lassen! Dagegen deute es auf die Anwesenheit gewisser, sehr unschuldiger Vierfüßler, welche hier sehr zahlreich vorkämen.
»Beruhigen Sie sich also, sagte er, und machen Sie keine Bewegung, welche jene Thiere erschrecken könnte.
– Was für welche sind es denn? fragte Dick Sand, der es sich einmal zur Gewissenspflicht gemacht hatte, dem Amerikaner, welcher sich übrigens niemals lange bitten ließ, auszufragen und zum Reden zu bewegen.
– Das sind Antilopen, junger Freund, erklärte Harris.
– O, die möcht’ ich so gerne sehen! rief der kleine Jack.
– Das ist nicht so leicht, mein kleines Männchen, erwiderte der Amerikaner, gar nicht so leicht.
– Vielleicht könnte man sich diesen pfeifenden Antilopen doch vorsichtig zu nähern suchen? fragte Dick Sand.
– O, Sie würden keine drei Schritte gethan haben, antwortete der Amerikaner, so wäre die ganze Gesellschaft entflohen. Bemühen Sie sich deshalb also lieber gar nicht!«
Dick Sand hatte seine Gründe, etwas neugierig zu sein. Er mußte sehen, woran er war, und mit der Flinte in der Hand glitt er geräuschlos durch das hohe Gras. Plötzlich huschten mit Sturmeseile etwa ein Dutzend graziöser Gazellen mit kleinen, spitzen Hörnern vorüber. Ihr röthliches Fell leuchtete fast wie ein Feuer zwischen dem dichten Laubwerk des Waldes.
»Das hatte ich Ihnen vorhergesagt!« bemerkte Harris, als der Leichtmatrose seinen Platz neben ihm wieder einnahm.
War es jetzt wirklich unmöglich gewesen, die leichtfüßigen Antilopen genauer zu erkennen, so sollte das bei einem anderen Rudel von Thieren, welche am nämlichen Tage in Sicht kamen, besser gelingen. Auch diese konnte man zwar nur unvollkommen sehen, ihre Erscheinung rief aber zwischen Harris und einigen Anderen einen sehr merkwürdigen Meinungsaustausch hervor.