Gegen vier Uhr Nachmittags hatte die kleine Gesellschaft an einer Waldblöße einen kurzen Halt gemacht, als aus einem etwa hundert Schritte entfernten Dickicht drei oder vier große Thiere hervorbrachen und mit ziemlicher Schnelligkeit davon liefen.
Trotz der Einreden des Amerikaners schlug der Leichtmatrose diesmal doch mit der Büchse an und gab auf eines jener Thiere Feuer. In dem Augenblicke aber, als der Schuß krachte, hatte Harris schnell dem Gewehre eine andere Richtung gegeben, so daß Dick Sand trotz seiner Fertigkeit im Schießen sein Ziel verfehlte.
»Nicht feuern! Nur nicht feuern! ermahnte der Amerikaner.
– Warum nicht? Das waren ja Giraffen! antwortete Dick Sand.
– Giraffen? wiederholte der kleine Jack, indem er sich im Sattel aufrichtete. Wo sind denn die großen Thiere?
– Giraffen! bemerkte Mrs. Weldon. Du täuschtest Dich wohl, Dick; in Amerika giebt es Giraffen nicht.
– In der That, sagte Harris, der sehr erstaunt schien, in diesem Lande können Giraffen nicht vorkommen.
– Nun, und was sahen wir denn sonst?… fragte Dick Sand.
– Ich weiß es wirklich nicht, erwiderte Harris. Sollten Ihre Augen Sie nicht betrogen haben, mein junger Freund? Ich glaube weit eher, daß das Strauße waren.
– Strauße! wiederholten Mrs. Weldon und Dick Sand wie aus einem Munde, und sahen einander verwundert an.
– Ja wohl, einfache Strauße, versicherte Harris.
– Strauße sind aber Vögel, versetzte Dick Sand, und können folglich nur zwei Füße haben.
– Gewiß, antwortete Harris, und ich glaube eben gesehen zu haben, daß jene Thiere Zweifüßler waren.
– Wie? Zweifüßler! versetzte der Leichtmatrose.
– Ich glaubte allerdings auch, vierfüßige Thiere gesehen zu haben, äußerte Mrs. Weldon.
– Ich auch, fügte der alte Tom hinzu, dessen Worte Bat, Acteon und Austin bestätigten.
– Strauße mit vier Beinen! lachte Harris laut auf. Das wäre kostbar!
– Auch haben wir Alle, setzte Dick Sand hinzu, Giraffen vor uns zu haben geglaubt, aber keine Strauße.
– Nein, mein junger Freund, nein, nein! erwiderte Harris. Sie haben wahrhaftig falsch gesehen. Es erklärt sich das leicht durch die Schnelligkeit, mit der die Thiere entflohen. Uebrigens ist es Jägern mehr als einmal widerfahren, sich ganz wie Sie zu täuschen, wo sie das nicht im Mindesten geglaubt hätten!«
Was der Amerikaner sagte, klang la so ziemlich annehmbar. Man kann sich wohl irren, wenn man einen recht hohen Strauß und eine mittelgroße Giraffe aus einiger Entfernung nur flüchtig sieht. Handelt es sich dabei auch um die Unterscheidung eines Schnabels und einer Schnauze, so ragen doch Beide merkbar vor einen langen, etwas nach rückwärts getragenen Hals hinaus, und, streng genommen, könnte man wohl sagen, daß ein Strauß nichts Anderes sei als eine halbe Giraffe. Es fehlen ihm nur die Hinterfüße. Eilen jener Zwei-oder dieser Vierfüßler also schnell vor dem Beobachter vorüber, so kann man buchstäblich den Einen für den Anderen halten.
Der schlagendste Beweis dafür, daß Mrs. Weldon und die Uebrigen sich täuschten, lag ja in dem Umstande, daß Giraffen in Amerika nicht vorkommen.
Dick Sand äußerte hierüber noch eine Bemerkung.
»Ich glaubte aber, daß man in der neuen Welt Strauße ebensowenig anträfe als Giraffen?
– Doch, mein junger Freund, antwortete Harris, und gerade Südamerika besitzt eine ihm ganz eigenthümliche Art. Zu ihr gehört z.B. der »Nandu«, den Sie eben sahen!«
Harris sprach die Wahrheit. Der Nandu ist in den Ebenen Südamerikas ganz gewöhnlich und das Fleisch der jungen Thiere auch recht schmackhaft. Dieses kräftige Thier, dessen Höhe manchmal zwei Toisen (= 12 Fuß) übersteigt, hat einen geraden Schnabel, lange Flügel von buschigen bläulichen Federn und Füße mit drei Zehengliedern, was ihn von den Straußarten Afrikas sicher unterscheidet.
Harris machte diese genauen Angaben und schien mit der Lebensweise der Nandus überhaupt sehr vertraut. Mrs. Weldon und ihre Genossen mußten eine Täuschung ihrerseits endlich wohl zugeben.
»Es wäre übrigens möglich, setzte Harris seinen Erklärungen noch hinzu, daß wir wiederholt einer solchen Gesellschaft von Straußen begegneten. Dann sehen Sie besser hin und hüten Sie sich, Vögel für Vierfüßler zu halten. Vor Allem aber, mein junger Freund, gedenken Sie meiner Warnung und feuern Sie niemals auf ein Thier, welches es auch sein möge. Um uns Lebensmittel zu verschaffen, brauchen wir ja nicht zu jagen, und ich wiederhole Ihnen, daß es rathsamer ist, unsere Gegenwart im Walde nicht durch den Knall eines Gewehres zu verrathen.«
Trotz aller Worte wurde Dick Sand doch recht nachdenklich. Noch einmal stieg ein Zweifel, der ihm schon früher gekommen, in seinem Geiste auf.
Am folgenden Tage, dem 17. April, wurde die Wanderung wieder aufgenommen, und versicherte der Amerikaner, daß die kleine Gesellschaft nun vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden in der Hacienda de San Felipe untergebracht sein würde.
»Dort, Mistreß Weldon, fügte er hinzu, werden Sie alle in Ihrer jetzigen Lage erforderliche Pflege und Hilfe finden und einige Tage der Ruhe werden Sie vollkommen wieder herstellen. Vielleicht empfängt Sie in der Hacienda der Luxus nicht, den Sie von Ihrer Wohnung in San Francisco her gewohnt sind; Sie werden sich jedoch überzeugen, daß unsere Ansiedelungen im Innern des Landes doch auch nicht alles Comforts entbehren. Wir sind nicht durch und durch Wilde.
– Herr Harris, antwortete ihm Mrs. Weldon, wenn wir für Ihren edelmüthigen Beistand jetzt auch nichts Anderes zu bieten haben als unseren Dank, so bringen wir Ihnen diesen doch von ganzem Herzen dar. Ja! Es ist Zeit, daß wir nun ankommen.
– Sind Sie sehr angegriffen, Mistreß Weldon?
– O, von mir spreche ich nicht, erwiderte die Dame, doch ich bemerke, daß mein kleiner Jack nach und nach von Kräften kommt. Zu gewissen Stunden packt ihn schon das Fieber.
– Leider muß ich gestehen, antwortete Harris, daß auf diesem Plateau, obwohl es im Allgemeinen sehr gesund ist, im März und April häufig intermittirende Fieber herrschen.
– Ja wohl, sagte da Dick Sand, doch hat die vorsorgliche Natur auch das Heilmittel gleich dazu gegeben.
– Wieso, mein junger Freund? fragte Harris, der jenen nicht zu verstehen schien.
– Befinden wir uns nicht in der Gegend der Chinabäume? erwiderte Dick Sand jene Frage.
– Gewiß, bestätigte Harris, Sie haben vollkommen Recht. Die Bäume, welche die kostbare Fieberrinde liefern, sind hier zu Hause.
– Ich wundere mich nur, fuhr Dick Sand fort, daß wir noch kein Exemplar derselben gesehen haben.
– O, mein junger Freund, belehrte ihn Harris, diese Bäume sind nur schwierig zu finden. Wenn sie auch emporwachsen, große Blätter und rosenrothe, wohlriechende Blüthen tragen, so entdeckt man sie doch nicht leicht. Nur selten stehen sie in Gruppen beisammen. Sie erscheinen vielmehr zerstreut in den Wäldern, und wenn die Indianer die Chinarinde einsammeln, so erkennen sie den Baum nur an seinem immergrünen Laube.
– Wenn Sie einen solchen Baum sehen, Herr Harris, bat Mrs. Weldon, so zeigen Sie mir ihn gefälligst.
– Gewiß, Mistreß Weldon; in der Hacienda finden Sie indeß auch schwefelsaures Chinin vorräthig. Es wirkt dieses Mittel noch sicherer gegen das Wechselfieber als die einfache Rinde des Baumes.«1
Dieser letzte Reisetag verlief ohne weiteren Zwischenfall. Der Abend kam heran und für die Nacht wurde in gewohnter Weise die Lagerstätte hergerichtet. Bisher hatte es noch niemals geregnet, doch jetzt schien das Wetter wechseln zu wollen; denn aus dem Erdboden stieg ein feuchtwarmer Dunst empor, der nach und nach zum dichten Nebel wurde.
Die Regenzeit nahte schnellen Schrittes heran. Zum Glück sollte sich ja aber morgen schon der kleinen Gesellschaft ein gastfreies Obdach darbieten. Bis dahin dauerte es nur noch wenige Stunden.