»Nicht feuern!« ermahnte der Amerikaner. (S. 204.)
Obwohl man nach Harris, dessen Berechnung sich freilich nur auf die während der Wanderung verflossene Zeit gründete, nur noch sechs Meilen von der Hacienda entfernt sein sollte, so wurden doch die gewöhnlichen vorsorglichen Maßnahmen für die Nachtruhe nicht vernachlässigt. Auch heute sollten Tom und seine Genossen abwechselnd Wache halten.
Für die Nacht wurde die Lagerstätte hergerichtet. (S. 207.)
Dick Sand legte ein besonderes Gewicht darauf, nichts außer Acht zu lassen Weniger als je wollte er sich der gewöhnlichen Klugheit und der gebotenen Schutzmaßregeln entschlagen, denn in seinem Kopfe stieg langsam ein schrecklicher Verdacht auf, von dem er vorläufig jedoch Niemandem etwas mittheilte.
Unter einer Gruppe großer Bäume wurde die Lagerstatt aufgeschlagen. Unter dem Einflusse tiefer Ermüdung waren Mrs. Weldon und die Anderen schon eingeschlummert, als sie durch einen lauten Schrei plötzlich wieder erweckt wurden.
»Hallo! Was giebts? rief Dick Sand, der, der Erste von Allen, zuerst aufsprang.
– Ich war’s! Ich habe geschrieen! meldete sich Vetter Benedict.
– Was haben Sie? fragte Mrs. Weldon.
-Es hat mich etwas gebissen!
– Doch nicht eine Schlange?… erkundigte sich die Dame erschreckt.
– Nein, nein! Eine Schlange zwar nicht, aber ein Insect, antwortete Vetter Benedict. Da – da hab’ ich es erwischt!
– Nun, so machen Sie Ihrem Insect den Garaus und lassen Sie uns ruhig schlafen, Herr Benedict, sagte Harris.
– Ein Insect tödten! versetzte Vetter Benedict, beileibe nicht! Erst muß ich sehen, was es ist.
– Was wird’s denn sein? Ein Muskito! meinte Harris verächtlich.
– Fehlgeschossen! Das ist eine Fliege, erwiderte Vetter Benedict, und noch dazu eine sehr merkwürdige!«
Dick Sand hatte eine kleine Handlaterne angezündet und trat an Vetter Benedict näher heran.
»Himmlische Güte! rief dieser entzückt, das entschädigt mich für alle Enttäuschungen. Endlich habe ich eine Entdeckung gemacht!«
Der wackere Gelehrte phantasirte. Triumphirend betrachtete er seine Fliege, die er am liebsten geherzt und geküßt hätte.
»Nun, was singen Sie denn? fragte Mrs. Weldon.
– Eine Diptere, Cousine, eine wundervolle Diptere!«
Vetter Benedict zeigte eine ziemlich kleine Fliege von matter Färbung und mit gelblichen Streifen am hinteren Körpertheile.
»Das Insect ist doch nicht etwa giftig? forschte Mrs. Weldon.
– Nein, Cousine, wenigstens nicht für den Menschen. Für Thiere freilich, für Antilopen, Büffel, selbst für Elefanten liegt die Sache anders. O, das ist ein wunderbares Insect!
– Werden Sie uns, Herr Benedict, fragte Dick Sand, wohl auch sagen, was das für eine Fliege ist?
– Diese Fliege, begann der Entomolog, die Fliege, welche ich in der Hand halte, diese Fliege… ist eine Tetse! Diese berühmte Diptere gereicht jedem Lande zur Ehre und bis heute hat man in Amerika nie eine Tetse aufgefunden!
Dick Sand wagte Vetter Benedict nicht zu fragen, in welchem Welttheile man diese gefürchtete Tetse gewöhnlich finde.
Als seine Gefährten aber nach diesem Zwischenfalle längst wieder in süßer Ruhe lagen, konnte er doch trotz aller Ermüdung die ganze Nacht kein Auge zuthun.
Fußnoten
1 Früher begnügte man sich, die genannte Rinde nur zu pulverisiren; sie trug den Namen »Jesuiten-Pulver«, weil die Jesuiten in Rom im Jahre 1649 zuerst von ihrer afrikanischen Mission eine beträchtliche Menge derselben erhielten.
Achtzehntes Capitel.
Das entsetzliche Wort!
Es war nun hohe Zeit, an’s Ziel zu gelangen. Die äußerste Erschöpfung machte es Mrs. Weldon fast unmöglich, eine unter so furchtbaren Mühen und Beschwerden vor sich gehende Reise noch länger fortzusetzen. Der Anblick ihres kleinen Knaben mit seinem während des Fieberanfalles so rothen, und während der freien Zeit so todtenblassen Gesichtes berührte sie schmerzlich. Ihre unruhige Sorge erlaubte ihr nicht einmal, Jack der Pflege der guten Nan zu überlassen, sondern sie trug ihn stets selbst halbliegend im Arme.
Ja, es war höchste Zeit, nun anzukommen! Nach der Versicherung des Amerikaners sollte die kleine Gesellschaft indessen auch am Abend des eben anbrechenden Tages, am Abend dieses 18. April, endlich in der gastlichen Hacienda de San Felipe eintreffen.
Eine zwölftägige Reise, und zwölf unter freiem Himmel verbrachte Nächte, das mußte die Kräfte der Mrs. Weldon, trotz ihrer energischen Natur, doch zuletzt aufreiben. Für ein Kind war das natürlich noch schlimmer, und der Anblick des kleinen kranken Jack, dem es an der nothwendigsten Pflege fehlte, raubte ihr noch gänzlich die Ruhe. Dick Sand, Nan, Tom und seine Gefährten hatten die Mühseligkeiten der Reise besser überstanden.
Wenn die Lebensmittel nun auch zu Ende gingen, so hatte es doch niemals an dem Nöthigsten gefehlt.
Harris schien für die Beschwerden eines langen Weges durch die Wälder wie geschaffen; an ihm merkte man kaum eine Spur von Ermüdung. Nur glaubte Dick Sand zu bemerken, daß er, je näher man der Hacienda kam, minder unbefangen auftrat und sein Benehmen zurückhaltender wurde, während man doch eher das Gegentheil erwartet hätte. Das war wenigstens die Ansicht des jungen Leichtmatrosen, dessen Mißtrauen gegen den Amerikaner mehr und mehr zugenommen hatte. Und doch, welches Interesse konnte Harris wohl daran haben, sie zu täuschen? Dick Sand vermochte sich das zwar nicht zu enträthseln, doch beobachtete er ihren Führer stets mit ängstlicher Genauigkeit.
Der Amerikaner bemerkte wahrscheinlich, daß Dick Sand ein wachsames Auge auf ihn hatte, und zweifelsohne war es dieses Mißtrauen, das ihn gegenüber seinem »jungen Freunde« mehr und mehr schweigsam machte.
Die Wanderung ward wieder angetreten.
In dem jetzt weniger dichten Walde standen die Bäume in Gruppen und bildeten keine undurchdringlichen Ansammlungen mehr. Erreichte man hier die wirkliche Pampa, von der Harris gesprochen hatte?
Die ersten Stunden des Tages vergingen, ohne daß irgend ein Ereigniß Dick Sand’s Befürchtungen gesteigert hätte. Nur zweierlei fiel ihm auf. Vielleicht war Beides nur von untergeordneter Bedeutung, unter den gegebenen Verhältnissen aber erlangte jede Einzelheit für ihn eine gewisse Wichtigkeit.
Zunächst erregte das Benehmen Dingo’s die besondere Aufmerksamkeit des jungen Leichtmatrosen.
Wenn der Hund früher immer einer Fährte nachzuspüren schien, so ward er jetzt, und zwar ganz plötzlich, ganz anders. Bisher schnüffelte er stets am Erdboden hin, durchstreifte das Gras und die Büsche, verhielt sich dabei schweigend oder ließ nur ein klägliches Bellen hören, das mehr der Ausdruck eines Schmerzes oder Bedauerns zu sein schien.
Heute schlug er dagegen laut, manchmal fast wüthend an, so wie damals als Negoro auf dem Verdeck des »Pilgrim« erschien.
In Dick Sand stieg sofort ein Verdacht auf, der noch mehr bestätigt wurde, als Tom zu ihm sagte:
»Das ist doch sonderbar, Herr Dick! Dingo schnüffelt heut nicht mehr an der Erde hin, wie er es noch bis gestern that. Er hebt die Nase und ist erregt; sein Fell sträubt sich auf! Man möchte sagen, er wittere von ferne…
– Negoro, nicht wahr? fiel Dick Sand ein, indem er den Arm des alten Negers ergriff und ihm andeutete, nur leise zu sprechen.
– Ja wohl, Negoro, Herr Dick, wäre es nicht denkbar, daß er unserer Fährte gefolgt wäre?