Während der letztzurückgelegten Meilen ihrer Reise hatte sich die Bodenbeschaffenheit merklich geändert. Das Land war niedriger und feuchter. Da und dort schlängelten sich schmale Bäche dahin, welche den Beweis lieferten, daß der Untergrund ein ganzes Netz von Wasseradern bergen mochte. Am letzten Reisetage noch war die Gesellschaft an einem jener Bäche hingezogen, dessen von Eisenoxyd geröthetes Wasser seine Farbe dem abgenagten Ufer entnahm. Es konnte weder allzu lange dauern, noch allzu schwierig sein, diesen wieder aufzufinden. Gewiß konnte man auf seinem wenigen schäumenden Wasser noch nicht stromabwärts fahren, recht wohl aber ihm bis zu seiner Mündung in einen größeren Nebenfluß folgen, der dann schiffbar zu sein versprach.
Diesen einfachen Plan hatte Dick Sand nach einer kurzen Unterredung mit Tom festgesetzt.
Nach Tagesanbruch erwachten alle Reisegefährten allmälig. Mrs. Weldon legte den noch schlummernden kleinen Jack in die Arme Nan’s nieder. Das in der Periode des aussetzenden Fiebers todtenblasse Kind bot einen wirklich schmerzlichen Anblick.
Mrs. Weldon ging auf Dick Sand zu.
»Dick, begann sie nach einigem Umherblicken, wo ist Harris? Ich finde ihn nicht!«
Der junge Leichtmatrose war der Ansicht, daß er die Verrätherei des Amerikaners seinen Gefährten nicht wohl verheimlichen dürfe, wenn er sie auch in dem Glauben ließe, auf dem Boden von Bolivia zu sein.
»Harris ist nicht mehr da, antwortete er ohne Zögern.
– Er ist also wohl vorausgegangen? fragte Mrs. Weldon.
– Er ist entflohen, Mistreß Weldon, erklärte Dick Sand. Dieser Harris ist ein Verräther und hat uns in Uebereinstimmung mit Negoro hierher in die Irre geführt!
– Was kann er damit wollen? fragte Mistreß Weldon lebhaft.
– Das weiß ich nicht, erwiderte Dick Sand möglichst ruhig, aber das Eine weiß ich, daß wir schnellstmöglich nach der Küste zurückkehren müssen.
– Dieser Mann… ein Verräther! rief Mrs. Weldon. O, meine böse Ahnung! Und Du glaubst, Dick, daß er im Einvernehmen mit Negoro handelte?
– Das muß so sein, Mistreß Weldon. Dieser Bösewicht folgte unserer Spur. Der Zufall hat zwei Schurken zusammengeführt und…
– Und ich hoffe, daß sie noch beisammen sind, wenn wir sie wieder finden, sagte Herkules. Ich zerschmettere dem Einen den Schädel mit dem Kopfe des Anderen! fügte der Riese hinzu, indem er seine gewaltigen Fäuste drohend ausstreckte.
– Aber mein armes Kind! schluchzte Mrs. Weldon, wo bleibt die Pflege, die ich für Jack in der Hacienda de San Felipe zu finden hoffte?…
– Jack wird sich erholen, suchte sie der alte Tom zu trösten, wenn er wieder in die gesundere Küstengegend kommt.
– Du bist Deiner Sache sicher, Dick, fragte Mrs. Weldon noch einmal, daß dieser Harris uns betrogen hat?
– Ganz sicher, Mistreß Weldon!« bekräftigte der Leichtmatrose, der jede Erörterung hierüber zu vermeiden suchte.
Mit einem Seitenblick auf den alten Neger fügte er auch noch schnell hinzu:
»Diese Nacht schon haben Tom und ich seine Verrätherei entdeckt, und hätte er nicht sein Pferd zur Flucht gehabt, ich hätte ihn niedergeschossen!
– Jene Farm also?…
– Hier giebt es weder Farm, noch Dorf, noch Flecken in der Nähe, antwortete Dick Sand, ich wiederhole Ihnen, Mistreß Weldon, wir müssen eiligst zur Küste zurückkehren.
– Auf dem nämlichen Wege, Dick?…
– Nein, Mistreß Weldon, wir wollen einen Wasserlauf benutzen, der uns ohne Anstrengung und Gefahr zum Meere hinab befördern wird.
– O, ich bin stark genug! antwortete Mistreß Weldon, die sich gegen ihre eigene Schwäche sträubte. Ich werde marschiren! Ich werde mein Kind tragen!
– Wir sind auch noch da, meinte Bat, wir werden Sie gleich selbst tragen!
– Ja, freilich!… stimmte Austin ein, zwei Baumäste, einige Zweige mit Blättern dazwischen…
– Ich danke Euch, meine Freunde, lehnte Mrs. Weldon dieses Anerbieten ab, ich werde zu Fuß mitkommen…. ich werde gehen. Vorwärts nur!
– Vorwärts denn! befahl der junge Leichtmatrose.
– Geben Sie Jack mir! sagte Herkules, indem er das Kind aus Nan’s Armen nahm, wenn ich nichts zu tragen habe, werde ich davon müde!«
Die kleine Gesellschaft hatte noch keine fünfzig Schritte zurückgelegt. (S. 258)
Zärtlich nahm der wackere Neger den schlafenden Knaben, der dabei nicht einmal erwachte, in seine kräftigen Arme.
Die Waffen wurden sorgfältig untersucht. Den Rest der Lebensmittel vereinigte man zu einem kleinen Ballen, so daß ihn ein einziger Mann tragen konnte. Acteon warf diesen auf den Rücken, während seine Gefährten in ihrer freien Bewegung ziemlich unbehindert blieben.
Vetter Benedict, dessen lange stählerne Beine keine Ermüdung kannten, war zum Aufbrechen bereit. Hatte er Harris’ Verschwinden bemerkt? Es wäre voreilig, das behaupten zu wollen. Ihm ging es überhaupt wenig zu Herzen; er litt nämlich gleichzeitig unter den Schlägen des herbsten Mißgeschickes, das ihn nur treffen konnte.
Vetter Benedict hatte – o, welches Unglück! – seine Loupe und seine Brille verloren!
Zum Glück, aber ohne daß jener es wußte, hatte Bat die beiden kostbaren Instrumente im hohen Grase der letzten Lagerstätte gefunden, aber auf Dick Sand’s Anrathen für sich behalten. Auf diese Weise konnte man wenigstens sicher sein, daß das große Kind sich unterwegs ruhig verhalten werde, weil der arme Gelehrte, wie erwähnt, nicht weiter als bis zu seiner Nasenspitze sehen konnte.
Zwischen Acteon und Austin mit der bestimmten Weisung gestellt, diese auf keinen Fall zu verlassen, ließ der beklagenswerthe Benedict niemals ein Wort des Widerspruches hören und folgte wie ein Blinder, den man an der Leine mitführt.
Noch keine fünfzig Schritte hatte die kleine Gesellschaft aber zurückgelegt, als der alte Tom sie plötzlich durch ein einziges Wort zum Stehen brachte.
»Und Dingo? sagte er.
– Wahrhaftig, Dingo ist nicht da!« antwortete Herkules.
Mit seiner weithin schallenden Stimme rief er den Hund mehrere Male.
Kein Gebell ertönte als Antwort.
Dick Sand verhielt sich still. Der Verlust des Hundes erschien sehr bedauerlich, denn jener hätte die kleine Gesellschaft vor jeder Ueberrumpelung gehütet.
»Sollte Dingo Harris nachgelaufen sein? fragte Tom.
– Harris – nein, entgegnete Dick Sand. Wohl aber könnte er Negoro’s Spur verfolgen; er witterte jenen uns auf dem Fuße.
– Dieser unselige Koch wird nichts Eiligeres zu thun haben, als ihn mit einer Kugel zu begrüßen!…
– Wenn ihm Dingo nicht vorher an der Kehle sitzt, warf Bat ein.
– Vielleicht, antwortete der junge Leichtmatrose. Doch wir können Dingo’s Rückkunft hier nicht abwarten; ist er noch am Leben, so ist er auch klug genug, uns wieder aufzufinden. Vorwärts also!«
Die Witterung war ziemlich schwül. Seit Tagesanbruch lagerten schwere Wolkenmassen am Horizonte, ein Gewitter schien in der Luft zu liegen.
Voraussichtlich endete der Tag nicht ohne einige Donnerschläge. Glücklicher Weise bewahrte der Wald, wenn er auch minder dicht war, dem Erdboden noch eine gewisse Frische. Da und dort rahmte ein hochstämmiger Wald offene Wiesenflächen, mit hohen, dichten Gräsern ein. An manchen Stellen lagen ungeheure, schon versteinerte Baumstämme am Boden – ein Anzeichen kohlenführenden Untergrundes, dem man auf dem Festlande Afrikas sehr häufig begegnet. An den lichteren Stellen, deren grüner Unterteppich auch mit einzelnen röthlichen Büschen besetzt war, leuchteten Blumen in den verschiedensten Farben, wie gelber oder blauer Ingwer, zartblasse Lobelien oder brennendrothe Orchideen, alle von ganzen Schwärmen Insecten besucht, welche sie gegenseitig befruchteten.